Unbequemes Erwachen
Der Artikel von Jean Martin wirkte auf mich überraschend und erlösend. Der Artikel zeigt, dass die Ärzte das Problem des Klimawandels und auch dessen Auswirkungen auf die Volksgesundheit erkannt haben. Es liegt in der Natur des Menschen, dass er leichter bereit ist, gute Nachrichten entgegenzunehmen als Hiobsbotschaften. Es macht sich für einen Autor kaum bezahlt, wenn er auf negative Entwicklungen und Tatsachen aufmerksam machen will. Die Tendenzen, die Wahrheit zu verdrängen und zu verleugnen, sind sowohl ein individuelles als auch kollektives Phänomen. Jeder Mensch ist geneigt, an seinen Vorteil für morgen zu denken und die Folgen destruktiver Handlungen zu übersehen. Ich habe in der Schweizerischen Ärztezeitung [1] meine Meinung zum Problem der «Ärzteschaft und Klimawandel» zum Ausdruck gebracht, ebenfalls habe ich in diesem Leserbrief auf eine der Ursachen des Klimawandels hingewiesen, deren Erkenntnis offenbar besonders unbequem ist, d.h. die globale Bevölkerungsexplosion. Es hat mich erstaunt, dass auf meinen Leserbrief keine Reaktion gefolgt ist, so als ob sich niemand für das Thema interessieren würde und man mit den Alltagssorgen genügend beschäftigt wäre. Auch mein Buch Destruktionstrieb und Transzendenz hat keine echte Beachtung gefunden trotz der freundlichen Besprechung durch Erhard Taverna, der meinte, dass der Autor «nicht selbstgefällig zur Ruhe komme». Das Buch wurde im gleichen Atemzug mit zwei anderen Büchern genannt, die sich «mit einer letztlich universalen, unerfüllbaren Sehnsucht» oder «der Schönheit und Tragik unseres Daseins» befassten [2]. Es ist bedauerlich, dass die ernsthaften und wichtigen Aussagen des Buches, das sich mit der Gefährdung der Schöpfung und der Stellung des Menschen befasst, auf die erwähnte Weise relativiert worden sind.
Der Artikel von Jean Martin gibt mir die Gelegenheit, nochmals auf dieses Buch aufmerksam zu machen und seine ungewöhnliche Art, das Problem des Klimawandels und des menschlichen Destruktionstriebes zu verstehen. Die bisherigen Versuche, den drohenden Gefahren durch die Umweltzerstörung beizukommen, erweisen sich mehr und mehr als ineffizient und das Herannahen des «Tipping point» (Umschlagspunkt) immer wahrscheinlicher. Die Frage, die in diesem Buch gestellt worden ist, ist jene nach den Gründen der kollektiven Apathie seit Jahrzehnten, d.h. seit ungefähr Mitte des letzten Jahrhunderts, als schon damals namhafte Forscher auf die drohenden Gefahren der Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts aufmerksam gemacht haben. Die Darstellung von Jean Martin und meine eigenen Ausführungen erhalten durch ein 2018 erschienenes Buch von Hubert Védrine, ehemaliger französischer Aussenminister, Unterstützung, welcher zu folgender Aussage gelangt: «Les comptes à rebours s’égrènent: menaces écologiques, explosion démographique avec les migrations qui en découlent et paraissent immaîtrisables: révolution numérique qui bouleverse l’organisation des sociétés et l’économie mondiale. Dans un contexte de désordre géopolitique.»
Veröffentlicht unter der Copyright-Lizenz.
"Attribution - Non-Commercial - NoDerivatives 4.0"
Keine kommerzielle Weiterverwendung ohne Genehmigung.
See: emh.ch/en/emh/rights-and-licences/