Welche Voraussetzungen hat der Arzt als medizinischer Sachverständiger zu erfüllen?

Der Arzt als Gutachter

Tribüne
Ausgabe
2018/42
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06973
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(42):1463-1465

Affiliations
Dr. iur., Teichmann International (Schweiz) AG, Anwaltskanzlei und Notariat, St. Gallen/Zürich

Publiziert am 17.10.2018

Bei der Beurteilung von Leistungsansprüchen aus der Unfall-, Invaliden- oder Krankenversicherung werden von Ärzten täglich Berichte, Stellungnahmen und Gutachten zuhanden der Sozialversicherungsträger verfasst. Damit ein beweis­taugliches medizinisches Gutachten überhaupt erstellt werden kann, hat der Arzt aus Sicht der Rechtsprechung bestimmte fachliche und persönliche Eigenschaften zu erfüllen. Dieser Beitrag geht der Frage nach, was ein medizinisches Gutachten aus juristischer Perspektive auszeichnet und welche Anforderungen der Arzt als Gutachter überhaupt erfüllen sollte.

Das medizinische Gutachten: Die juristische Perspektive

Nach der ständigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung zeichnet sich ein medizinisches Gutachten dadurch aus, dass es für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht und die geklagten Beschwerden der zu begutachtenden Person ­berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizi­nischen Situation und Zusammenhänge einleuchtet und dass die Schlussfolgerungen des Arztes begründet sind [1].

Résumé

Lors de l’évaluation des demandes de prestations au titre de l’assurance-accidents, invalidité ou maladie, les médecins rédigent quotidiennement des rapports, des prises de position et des expertises à l’attention des organismes de sécurité sociale. Pour être en mesure de fournir une expertise médicale ayant valeur de preuve, la jurisprudence stipule que le médecin doit répondre à certains critères professionnels et personnels. Cet article étudie ce qui caractérise une expertise médicale d’un point de vue juridique et les exigences que le médecin doit remplir en tant qu’expert.
Aus dem Gesagten mag der erste Eindruck entstehen, dass auch der einfache Hausarztbericht aus juristischer Sicht als medizinisches Gutachten zu gelten hat, immerhin beruhen die hausärztlichen Konsultationen in Kenntnis der Krankengeschichte des Patienten und auf eigenen medizinischen Untersuchungen des behandelnden Arztes. Die höchstrichterliche Rechtsprechung geht aber einen anderen Weg, weil diese zwischen verschiedenen Arten von Gutachten differenziert, die einen unterschiedlichen Beweiswert geniessen: Aus Sicht der Rechtsprechung ist für den Beweiswert auch entscheidend, wer das Gutachten bei wem in Auftrag gegeben hat [2]. Im Einzelnen:
– Versicherungsexterne Gutachten (auch Administrativgutachten genannt) werden von den Unfall-, Invaliden- und Krankenversicherern bei externen medizinischen Begutachtungsstellen wie den MEDAS oder frei praktizierenden Ärzten eingeholt. Sofern keine konkreten Indizien gegen die Zuverlässigkeit des Gutachtens sprechen, geniesst dieses vollen Beweiswert [3];
– Versicherungsinterne Gutachten werden von den Unfall-, Invaliden- und Krankenversicherern bei intern angestellten Ärzten wie den KVG-Vertrauensärzten, den SUVA-Kreisärzten oder den RAD-Ärzten in ­Auftrag gegeben. Versicherungsinterne Gutachten geniessen nicht den gleichen Wert wie die versi­cherungsexternen Gutachten, können aber zur ­Beurteilung eines Leistungsanspruchs aus der Un­-fall-, Invaliden- oder Krankenversicherung ausrei­chen [4].
– Parteigutachten werden meist von der versicherten Person bei einem Arzt in Auftrag gegeben. Dieser Typ von Gutachten geniesst einen tieferen Beweiswert als die oben genannten Gutachten [5].
– Dem Hausarztbericht an sich wird kein grosser Beweiswert eingeräumt. Die Rechtsprechung geht ­davon aus, dass Hausärzte im Hinblick auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung in Zweifelsfällen eher zu Gunsten ihrer Patienten aussagen [6].
– Aktengutachten werden meist von intern angestellten Ärzten der Unfall-, Invaliden- oder Kranken­versicherer erstellt und beruhen nicht auf eigenen medizinischen Untersuchungen. Diese Art von Gutachten geniessen einen tiefen Beweiswert [7].
Zur Beurteilung eines Leistungsanspruchs aus der ­Unfall-, Invaliden- oder Krankenversicherung wird meist auf versicherungsexterne Gutachten abgestellt, weil diese Art von Gutachten aus Sicht der Gerichte den höchsten Beweiswert geniessen und nur unter sehr engen Voraussetzungen in Zweifel gezogen werden dürfen. Dies äussert sich beispielsweise darin, dass einem externen Gutachten entgegenlaufende Hausarztberichte, Partei- oder Aktengutachten nicht aus­reichen, um dessen Beweiswert in Frage stellen zu können [8].

Der Arzt als Gutachter

Ein Arzt hat bestimmte Qualifikationen zu erfüllen, damit er als Gutachter handeln kann. Mit anderen Worten: nicht jeder behandelnde Arzt wird einfach als Gutachter angesehen, der die oben beschriebenen beweiskräftigen versicherungsinternen oder -externen Gutachten erstellen kann, sondern er hat bestimmte persönliche und fachliche Voraussetzungen zu erfüllen. Im Gegensatz dazu können Partei- bzw. Akten­gutachten oder Hausarztberichte bei jedem behandelnden Arzt eingeholt werden, der diese noch zu konkretisierenden persönlichen und fachlichen Eignungen nicht vorzuweisen hat.
Als fachliche Voraussetzung hat der Gutachter Fachkompetenz in einer bestimmten medizinischen Disziplin vorzuweisen. Diese Fachkompetenz wird in der Regel durch den Nachweis eines spezialärztlichen Titels nachgewiesen. Ein Facharzttitel ist für den Gutachter nicht zwingend vorausgesetzt. Es genügt auch eine Fachausbildung, die im Ausland erlangt werden kann [9]. Besondere versicherungsmedizinische Kenntnisse, beispielsweise betreffend Arbeitsunfähigkeit, Invalidität oder Unfallkausalität, hat der Gutachter nach der Rechtsprechung bisher nicht vorzuweisen. Diese erscheint aber geradezu notwendig, weil besondere versicherungsmedizinische Kenntnisse der Gutachter 
die Qualität eines Sachverständigengutachtens massiv beeinflussen können [10]. Unabdingbar sind zudem bestimmte juristische Kenntnisse, um die Grundlagen des schweizerischen Sozialversicherungsrechts und -verfahrens, dessen Rechtsquellen (Bsp: ATSG; IVG; UVG oder KVG) und die wichtigste bundesgerichtliche Rechtsprechung (wie etwa BGE 143 V 418; 143 V 409; 
141 V 281; 139 V 349; 137 V 210) verstehen zu können.
Als wesentliche persönliche Voraussetzung hat der Gutachter Unabhängigkeit und Unbefangenheit gegenüber der zu begutachtenden Person zu zeigen. Er hat sich bei seiner Beurteilung stets nur von objek­tiven Gesichtspunkten leiten zu lassen. Daneben hat der Gutachter eine besondere Sozialkompetenz vorzuweisen, die vor allem bei psychiatrischen Begutach­tungen relevant ist.

Ausbildung als Gutachter

Bis heute gibt es keine vorgeschriebene Ausbildung als medizinischer Gutachter, um die wünschenswerten versicherungsmedizinischen Kenntnisse zu erlangen. Dies mag insbesondere auch daran liegen, dass die ­Versicherungsmedizin in der universitären und der kli­nischen Ausbildung der Ärzte bisher nicht im Vor­dergrund steht. Die Notwendigkeit zur Erlangung besonderer versicherungsmedizinischer Kenntnisse ist in den letzten Jahren aber erkannt und bestimmte Weiterbildungsangebote für Ärzte sind geschaffen worden. Hierfür zu nennen sind insbesondere:
– Die Zertifizierung der Swiss Insurance Medicine (SIM): Bei der SIM handelt es sich nach eigener Aussage um eine interdisziplinäre Plattform für schweizerische Versicherungsmedizin mit dem Ziel, die Qualität im Bereich der Versicherungsmedizin zu verbessern. Die SIM verfügt über ein weitläufiges Netz von Partnern, darunter die FMH, namhafte Versicherungen, externe medizinische Beratungsstellen und Ausbildungsinstitute. Das Angebot der SIM reicht von ­modularen Weiterbildungsveranstaltungen wie der «Gutachterausbildung SIM» bis hin zu regelmässigen «Fortbildungskursen für SIM Gutachter» [11].
– Die dem Universitätsspital Basel angegliederte asim (Academy of Swiss Insurance Medicine) bietet nach eigenen Angaben akademische Fort- und Weiterbildungen in der Versicherungsmedizin an. Dieses Angebot reicht vom «Master of Advanced Studies Versicherungsmedizin (MAS)» bis hin zum «Diploma of Advanced Studies Versicherungsmedizin (DAS)» und dem «Certificate of Advanced Studies Versicherungsmedizin (CAS)». Daneben bietet die asim noch monatlich stattfindende Fortbildungsveranstaltungen an [12].
Insgesamt ist es als positiv zu werten, dass Weiter­bildungsangebote geschaffen worden sind, um die versicherungsmedizinischen Kenntnisse der Ärzte zu vertiefen und aufzufrischen. Im juristischen Schrifttum werden die bereits beschriebenen Weiterbildungsangebote teilweise aber als unzureichend angesehen, und vor allem von den Rechtsvertretern der ver­sicherten Personen wird gefordert, dass eine staatlich kontrollierte Gutachterausbildung geschaffen werden soll [13]. Dieses Anliegen erscheint aber bis heute nur sehr schwer umsetzbar, weil eine staatlich kontrollierte Gutachterausbildung wiederum viele zentrale und komplexe Fragen aufwirft: Soll diese Gutachterausbildung schon in den universitären oder den klinischen Ausbildungseinrichtungen beginnen? Welchen Umfang soll diese Gutachterausbildung haben? Wie wird solch eine Gutachterausbildung organisiert und wer soll diese durchführen?
Damit solch komplexe Fragen überhaupt gelöst werden können, hat die Rechtsprechung bzw. der Gesetzgeber die versicherungsmedizinischen Kenntnisse der Ärzte für notwendig zu erklären. Ein Umstand, der, wie bereits beschrieben, von der Rechtsprechung aber noch nicht aufgegriffen worden ist. Aus diesem Grund ist es zu begrüssen, dass private Institutionen wie die SIM und die asim in Kooperation mit der FMH und ­anderen Institutionen Weiter- und Fortbildungen im Bereich der Versicherungsmedizin anbieten, um die gros­se Nachfrage nach versicherungsmedizinischem Know-how befriedigen zu können.

Fazit

Das medizinische Gutachten spielt eine wesentliche Rolle bei der Beurteilung von Leistungsansprüchen aus der Unfall-, der Invaliden- oder der Krankenversicherung, wobei die sogenannten versicherungsexternen Gutachten in der Praxis einen zentralen Stellenwert geniessen. Die Rechtsprechung geht bei diesen von einem hohen Beweiswert aus. Damit ein Arzt generell ein solch beweiskräftiges (versicherungsexternes) Gut­achten erstellen darf, hat er bestimmte fachliche und persönliche Anforderungen zu erfüllen. Bei den fach­lichen Anforderungen sind insbesondere versicherungsmedizinische Kenntnisse wünschenswert, die der Gutachter neben dem Facharzttitel vorweisen sollte.
Dr. iur. Marco Weiss
Teichmann International AG
Dufourstrasse 124
CH-9000 St. Gallen
info[at]teichmann-law.ch
 1 BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a; 122 V 157 E. 1c.
 2 Grundlegend BGE 125 V 351 E. 3a; 122 V 157 E. 1c.
 3 BGE 137 V 210 E. 1.3.4; 135 V 465 E. 4.4.
 4 BGE 137 V 210 E. 1.2.1; 122 V 157 E. 1c.
 5 BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3c.
 6 BGE 125 V 351 E. 3b/cc.
 7 Urteil des BGer 8C_514/2008 vom 31. März 2009 E. 5; Urteil des BVGer B-3047/2013 vom 9. Juni 2015 E. 8.2.
 8 Exemplarisch Urteil des BGer 9C_746/2010 vom 28. Januar 2011 E. 3.1.
 9 Urteil des BGer 9C_270/2008 vom 12. August 2008 E. 3.3.
10 Mit weiteren Literaturangaben Weiss M. Mitwirkungsrechte vor der Einholung medizinischer Gutachten in der Invalidenversicherung. Problematiken und Regelungsmöglichkeiten. Bern: Editions Weblaw; 2018. S. 34.
11 Vertiefend https://www.swiss-insurance-medicine.ch/de/home_de.html (abgerufen am 8. Mai 2018).
13 Mit weiteren Hinweisen Aliotta M. Begutachtungen im Bundes­sozial­versicherungsrecht. Gehörs- und Partizipationsrechte der versicherten Personen bei Begutachtungen im nichtstreitigen Verwaltungsverfahren gemäss ATSG. Zürich/Basel/Genf: Schulthess; 2017. S. 184 – 187.
14 BGE 141 V 281 E. 5.1.2.