Selbsthilfe bei HIV-positiven Frauen

Tribüne
Ausgabe
2018/34
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06977
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(34):1118-1119

Affiliations
Dr. med., Fachärztin für Innere Medizin und Infektiologie, Mitglied FMH

Publiziert am 22.08.2018

Selbsthilfe für HIV-positive Frauen – ist das (noch) nötig? Die HIV-Therapie ist doch so viel einfacher geworden; ohne nachweisbare Viruslast kann HIV nicht weiter­gegeben werden; fast niemand stirbt mehr an HIV …
Alles richtig. Aber HIV-infizierte Frauen sind nach wie vor mit zahlreichen Problemen konfrontiert. Einige Beispiele:
Das HIV-Wissen in der Allgemeinbevölkerung ist oft dürftig, gerade auch bei heterosexuellen Männern. Nicht selten weiss ein (potentieller) Partner nichts von der guten Behandelbarkeit von HIV, nichts von der Nichtinfektiosität dank HIV-Therapie. Die Frauen müssen aus der Position der Betroffenen heraus zusätzlich Informations-Pionierarbeit leisten. Dies ist schwierig und emotional fordernd.
Oft wird als Ursache einer HIV-Infektion an stattgehabten Drogenkonsum oder ein ausschweifendes Sexualleben gedacht. Die Frauen erleben entsprechende Fragen und Andeutungen als sehr belastend. Tatsächlich haben sich die meisten von ihnen heterosexuell infiziert, oft in der festen Partnerschaft.
Die Frauen sind mehrheitlich berufstätig, viele sind zusätzlich beansprucht durch die Betreuung von Kindern oder anderen Familienangehörigen. Im Alltag finden sie kaum eine Möglichkeit, über ihre Krankheit zu sprechen.
Überproportional von HIV betroffen sind Frauen mit Migrationshintergrund. Sie haben zusätzliche Belastungen durch Sprachhindernisse, oft Erschwernisse im Arbeitsmarkt. Da ist es bei der Auseinandersetzung mit der HIV-Infektion umso wichtiger, Frauen, die trotz und mit der Infektion ein gutes Leben führen, als Rollenmodell zu erleben.

Resumé

La participation à des groupes d’entraide sur le VIH s’avère bénéfique pour de nombreuses femmes séropositives. L’échange avec des personnes dans la même situation est vécu comme libérateur, les réunions sont l’occasion de partager des expériences et d’aborder des situations difficiles dans la gestion du VIH. «Positive Frauen Schweiz» propose depuis plusieurs années des groupes d’entraide pour les femmes séropositives à Zurich et à Berne. Si suffisamment de femmes s’annoncent, des réunions peuvent également être organisées dans d’autres villes et en langue française. Les groupes d’entraide se veulent complémentaires de la prise en charge médicale. Comme les difficultés dans la gestion du VIH au quotidien et les soucis existentiels sont abordés en groupe, ils passent au second plan lors de la consultation, qui peut donc se concentrer sur les aspects médicaux.
De nombreuses femmes séropositives ne connaissent pas encore les groupes d’entraide de «Positive Frauen Schweiz». Comme ces femmes sont issues d’horizons très différents et ont souvent très peu de contacts avec les organisations spécialisées dans le VIH, le médecin joue un rôle clé dans l’information. Elles sont souvent reconnaissantes d’avoir été rendues attentives à l’entraide, qu’elles perçoivent comme une appréciation de l’expérience vécue au sein du groupe.

Bestehende Selbsthilfegruppen

Seit über drei Jahren gibt es die Selbsthilfegruppen von «Positive Frauen Schweiz». Die Gruppen treffen sich 
4- bis 6-wöchentlich, in Zürich und in Bern. Sobald sich genügend Frauen melden, können auch andernorts Gruppen entstehen, auch in französischer Sprache (in Genf führt Groupe Sida Genève eine Frauengruppe, www.groupesida.ch).
Die Räumlichkeiten der Treffen von Positive Frauen Schweiz sind zentral erreichbar, diskret und nicht mit HIV assoziiert. Die Sitzungen werden geleitet von Frauen, die schon seit vielen Jahren mit HIV leben. In angenehmer, vertrauensvoller Atmosphäre lernen die Frauen voneinander, ihr Leben mit HIV bestmöglich zu gestalten. Jeder Teilnehmerin, mit all ihren Lebensumständen, wird wertschätzend begegnet. Die in den Gruppen ausgetauschten persönlichen Informationen unterliegen der Vertraulichkeit.

Themen der Gruppensitzungen

Die Gruppensitzungen starten mit einem freien, informellen Teil. Lust und Frust der letzten Wochen werden berichtet, neue Teilnehmerinnen eingeführt, gemeinsame Aktivitäten vorbereitet. Es folgt die gemeinsame Erarbeitung eines Themas, nach Bedarf können auch Sitzungen mit Entspannungs- oder Lockerungsübungen stattfinden. Die Themen ergeben sich meist durch die Bedürfnisse der jeweiligen Gruppe. Oft geht es dabei um das Selbstmanagement in schwierigen Phasen: «Lebensfreude mit HIV», «HIV-Koller und Tipps zur Selbstermunterung». Viel Erfahrung fliesst ein bei ­Themen wie «Liebe und Partnerschaft mit HIV». Als sehr wichtig haben sich auch Themen zur finanziellen Ab­sicherung und (Alters)Vorsorge erwiesen. Ein Dauerbrenner ist: «Wie schaffe ich es, mich über Jahre und Jahrzehnte immer zur Medikamenteneinnahme zu motivieren?». Thematisiert werden auch die häufigen Diskriminierungserfahrungen und Ablehnung wegen HIV, die bei Betroffenen zu Minderwertigkeitsgefühlen, sozialem Rückzug und Depressionen führen können.
Von vielen Teilnehmerinnen wird es als sehr befreiend erlebt, offen über alle Probleme zu sprechen, ähnliche Erfahrungen auszutauschen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

Selbsthilfegruppen als Partner des Arztes/der Ärztin

Die Selbsthilfegruppen sind hilfreich für das Verhältnis zwischen Arzt/Ärztin und Patientin: die Frauen trainieren in den Gruppen das Reden über ihre Infektion. Sie lernen, dass Veränderungen auch von schwierigen Lebenssituationen möglich sind – und dass sie diese selbst gestalten können. Die Unterstützung von Gleichbetroffenen hilft, die «innere Batterie» wieder aufzuladen. Das Arztgespräch wird entlastet und kann sich auf die medizinischen Probleme konzentrieren. Zudem gilt: wer sich selbst wert schätzt und sich einer Gruppe oder einem Netzwerk zugehörig fühlt kann es auch leichter finden, sich an die Vorgaben der Therapie zu halten.
Die individuelle antiretrovirale Therapie oder konkrete medizinische Probleme sind keine Inhalte der Selbststärkungssitzungen. Die Gruppen sehen sich als Ergänzung zum Arztkontakt, keinesfalls als Konkurrenz zum Arztkontakt (sie sind sich bewusst, dass ihnen dazu die Kompetenz fehlt).
Die besondere, unterstützende Rolle von Gleichbetroffenen wird von Studienergebnissen untermauert [1, 2, 3].

Bessere Bekanntmachung der Selbsthilfegruppen

Viele HIV-betroffene Frauen kennen die Selbsthilfegruppen von «Positive Frauen Schweiz» noch nicht, ­zumal sie ausser über ihre Behandlungszentren nur schwer erreicht werden können. Andere kennen das Angebot, haben aber (noch) nicht den Mut zur Teilnahme aufgebracht. Es wäre hilfreich, wenn HIV-­infizierte Frauen auch von ärztlicher Seite auf die Selbsthilfegruppen von «Positive Frauen Schweiz» hingewiesen würden. In den Selbsthilfegruppen wurde nie berichtet, dass Frauen dies als Misstrauensvotum gegenüber ihrem Krankheitsmanagement angesehen hätten. Stattdessen sind viele Frauen dankbar für den Hinweis und erleben es als wertschätzend, dass von ärztlicher Seite die gelebte Erfahrung von betroffenen Frauen anerkannt wird.
Die Website www.positive-frauen-schweiz.ch enthält weitere Informationen zu den Gruppen; bei Fragen oder zur Bestellung von Visitenkarten steht auch der unten angegebene Kontakt zur Verfügung. Die regionalen AIDS-Hilfen und die AIDS-Hilfe Schweiz kennen die Angebote von Positive Frauen Schweiz.

Win-win-Situation

Machen Sie die Selbsthilfegruppen bei Ihren Patientinnen bekannt! Das könnte eine Entlastung der HIV-betroffenen Frau in ihrer Lebenssituation, aber auch eine Entlastung für Sie im ärztlichen Kontakt mit Ihren Patientinnen bedeuten.

«Positive Frauen Schweiz»

Weitere Informationen finden Sie auf der Homepage «Positive Frauen Schweiz»: www.positive-frauen-schweiz.ch
Bei Fragen oder zur Bestellung von Visitenkarten wenden Sie sich bitte an Dr. med. Barbara Bertisch: bertischbc[at]bluewin.ch
Auch die regionalen AIDS-Hilfen und die AIDS-Hilfe Schweiz kennen die Angebote von Positive Frauen Schweiz.
Dr. med. Barbara Bertisch
bertischbc[at]bluewin.ch
1 Mehnert L, Siem B, Stürmer S, Rohmann A. The impact of client-counselor similarity on acceptance of counseling services for women living with HIV. AIDS Care. 2018 Apr;30(4):461–5.
2 Cabral HJ, Davis-Plourde K, Sarango M, Fox J, Palmisano J, Rajabiun S. Peer Support and the HIV Continuum of Care: Results from a Multi-Site Randomized Clinical Trial in Three Urban Clinics in the United States. AIDS Behav. 2018 Jan 6.
3 O’Brien N, Hong QN, Law S, Massoud S, Carter A, Kaida A, et al. Health System Features That Enhance Access to Comprehensive Primary Care for Women Living with HIV in High-Income Settings: A Systematic Mixed Studies Review. AIDS Patient Care STDs. 2018 Apr;32(4):129–48.