Gesundheit ist unveräusserlich

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2018/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.06985
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(38):1275

Publiziert am 19.09.2018

Gesundheit ist unveräusserlich

Zeit ist unveräusserlich, weder übertragbar noch handelbar. Ihre Ontologie macht sie ­unvereinbar mit dem Markt.
Das Menschenrecht ist unveräusserlich. Weder handelbar noch verhandelbar steht es seit 1789 über dem Markt, unvereinbar mit ihm.
Gesundheit ist unveräusserlich und gehört dem Leben. Ihre Schrift ist Milliarden Jahre alt, die Wissenschaft nennt sie DNA. Gesundheit war vor der Wissenschaft und ist ohne sie; sie ist kein Werk des Arztes, der Medizin oder der Menschheit, auch nicht der Industrie, des Gesundheitswesens oder des Marktes.
Menschen können ihre DNA-Schrift nicht verkaufen. Sie können ihre lebenswichtigen Organe, ihr Leben, ihre Gesundheit nicht zu Markte tragen, diese entziehen sich dem Prinzip Kauf/Verkauf: Es gibt keinen Gesundheitsmarkt.
Wer Markt sagt, sagt Marketing. Der Begriff «Gesundheitsmarkt» gehört dazu, weil er der Wissenschaft widerspricht. Denn wir wissen, dass sein Hauptwort das Prinzip «Veräusserlichkeit» voraussetzt, sein Genitiv hingegen, Gesundheit, das Prinzip ‹Unveräusserlichkeit› verkörpert.
Medizin ist die menschliche Antwort auf ­unsere Conditio biologica, zu der Krankheit und Tod gehören, und sie hat der Menschheit zu dienen. Sie hört auf, Medizin zu sein, sobald sie das Prinzip «Unveräusserlichkeit» veräus­sert und Gesundheit vermarktet. Wer Krankheit als Teil der Conditio humana zur Profitquelle macht, verletzt die Würde des Menschen.
Die Werbebotschaft «Gesundheitsmarkt» vermittelt die Hierarchie, welche jene Akteure quasi programmatisch vertreten, die den Begriff affirmativ brauchen. Sie stellen den Markt über die Medizin, den Ökonomen über den Arzt, die Wirtschaft über die Menschheit. Die dominierenden Kräfte in Politik und Gesellschaft wollen den «Gesundheitsmarkt», sie wollen «Gesundheit» vermarkten, die ­Medizin dem Markt veräussern, käuflich machen. Und dazu gehört der FMH-Aufruf «Gemeinsam an der IFAS» [1], der «Messe für den Gesundheitsmarkt», in dem sich die FMH als «Akteur auf dem Gesundheitsmarkt» ortet und den Begriff ohne Anführungszeichen braucht.
Das Gesundheitssystem kann keine ernsthafte Aufgabe, auch nicht die Kostenfrage, ­lösen, solange die Hauptakteure den «Gesundheitsmarkt» anstreben, das heisst sich eine Macht anmassen, die sie nicht haben, und den Kunden dieses Marktes weismachen, die Leistungserbringer würden sie «mit Gesundheit versorgen». Denn wer Markt sagt, sagt Verkauf/Kauf, personell Verkäufer/Käufer. Mit ihrem Bekenntnis zum «Gesundheitsmarkt» macht die FMH ihre Mitglieder zu «Gesundheitsverkäufern».
Diese Konstellation stellt dem Arzt die Frage, wie viele Asbestopfer hätten vermieden werden können, hätte die Ärzteschaft im Interesse der Gesundheit den Markteingriff Asbestverbot 1980 durchgesetzt. Ein Jahrzehnt später schritt der Gesetzgeber ein, nachdem sowohl der Markt im Allgemeinen als auch der «Gesundheitsmarkt» im Speziellen versagt hatten, der anthropogenen Asbestepidemie Herr zu werden. Zudem konnte nur der Europäische Menschenrechtshof die Schweiz dazu bringen, die Verjährungsfrist den biolo­gi­schen Gegebenheiten anzupassen. Die Analogie zur heutigen Tabakepidemie ist offensichtlich: Sie ist lukrativ für die Tabakindustrie, ihre Vermarkter, aber auch lukrativ für den «Gesundheitsmarkt» und seine «Verkäufer», gemeinsam boosten sie den Wohlstandsbarometer Bruttoinlandsprodukt BIP. Die Vermeidung der Tabakepidemie würde zwar deren Opferzahl vermindern, aber dem Markt, dem BIP und dem «Gesundheitsmarkt» Verluste zufügen. In Bezug auf die Opfer ist der «Gesundheitsmarkt» ein Haupthindernis im Kampf gegen die anthropogenen Epidemien.
Der «Gesundheitsmarkt» findet seinen Vorläufer im Ablasshandel der Kirche des ausgehenden Mittelalters. Jener Schwindel florierte solange, als die Ablassverkäufer Leute fanden, «die einfältig genug waren, ihnen zu glauben» [2]. Zeit, Menschenrecht, Gesundheit sind nicht käuflich; es mag schmerzhaft sein, aber die Ärzteschaft und die Gesellschaft müssen einsehen, dass keine unserer noch so grossartigen gegenwärtigen und zukünftigen medizinischen Leistungen Einlass finden wird in unsere Schrift, die DNA, dass sie Behandlung von Krankheit, Reparatur, nicht aber Gesundheit sind.
Die Abschaffung der Vermarktung von Menschen muss heute ergänzt werden mit der ­Abschaffung der Vermarktung von deren Gesundheit.