Hitzeträume

Zu guter Letzt
Ausgabe
2018/34
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.17012
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(34):1130

Affiliations
Dr. med., Präsident des Schweizerischen Instituts für ärztliche Weiter- und Fortbildung SIWF

Publiziert am 22.08.2018

Unzweideutig hat mich der Blick in die Agenda daran erinnert, dass die Redaktion ein «Zu guter Letzt» erwartet. Eigentlich ja erfreulich, wenn man die Gelegenheit bekommt, den Lesern der Ärztezeitung eigene ­Gedanken und Eindrücke vorzulegen! Aber: Es ist heiss, einfach zu heiss! Die Strassen flimmern, kaum ein Wölkchen schiebt sich vor die Sonne, kein Gewitterchen getraut sich, zum richtigen Gewitter zu werden. Zudem herrscht Ferienstimmung und das heisst: eine Gelegenheit zum Träumen. Ich jedenfalls bin ins Träumen geraten, vielleicht auch weil ich diese Zeilen in der Ägäis schreiben musste, wo Hitze, Licht und spiegelnde Wellen noch intensiver sind als am Zürichsee.
Und so träumte ich denn von einem Gesundheits­wesen, zu dem die Ärzteschaft gemeinsam mit allen anderen Berufen engagiert und qualitätsbewusst ihren wichtigen Beitrag leistet. Von einem Gesundheits­wesen aber, in dem auch die Rahmenbedingungen so ­gestaltet wären, dass die Beschäftigten ihre Aufgabe mit Befriedigung, im Wissen um Anerkennung und mit positiven Perspektiven erfüllen könnten.
Ich träumte davon, dass für die Aus- und Weiterbildung genügend Ressourcen zur Verfügung stünden. Dienstleistung und wissenschaftliche Tätigkeit sind wichtig. Die Lehrtätigkeit müsste aber zumindest einen ebenbürtigen Stellenwert haben. Das Mitwirken bei der ärztlichen Bildung würde nicht als Pflicht, sondern als Privileg wahrgenommen und auch von Direktionen und Behörden konkret unterstützt werden. Es geht nicht um eine Last, sondern um die Zukunft der Qualität in der Medizin.
Ich träumte davon, dass alle Beteiligten sich darauf verständigten, für die Limitierung der Arbeitszeit eine sinnvollere Regelung zu finden, als sie heute besteht und teils schlecht, teils recht umgesetzt wird. Keinesfalls dürfte es darum gehen, die Errungenschaften ­einer lebensfreundlichen Arbeitszeitbeschränkung abzubauen, aber von Ärztinnen und Ärzten jeglicher Funktionsstufe hört man bei Visitationen oft, dass eine kluge Flexibilisierung allen das Leben erleichtern könnte.
Ich träumte davon, dass neue Informatiksysteme nicht nur deshalb eingeführt werden, weil wir nun einmal im Zeitalter solcher Systeme angekommen sind und sich die Verantwortlichen des Spitals von Seldwyla zum Beispiel hinterwäldlerisch vorkämen, wenn sie nicht schleunigst ein «Klinikinformationssystem Seld­wyla 001» einführen würden. Informatiksysteme sind zweifellos unentbehrlich, vorerst führt ihre Einführung noch in zu vielen Assistenzärztebüros nicht nur in Seldwyla aber zu Ärger und Zusatzarbeit, weil Benutzerfreundlichkeit keine Kernanforderung des Projektes war.
Ich träumte davon, dass der Ausdruck «evidence based» nicht zu einer Worthülse wird, sondern als «evidence based medicine» und auch als «evidence based politics» so ernst genommen wird, wie er es verdient. Realistisch betrachtet fehlt uns Ärzten aber in vielen Situationen noch die genügende Datenbasis für einen wirklich evidenzgestützten Entscheid. Deshalb kommt der gemeinsamen Entscheidungsfindung mit informierten Patienten umso mehr Bedeutung zu. Dieses «Clinical reasoning» mitsamt der entsprechenden Kommunikation müsste gezielter gelehrt und gepflegt werden.
Ob der Traum evidenzbasierter politischer Entscheide je in Erfüllung gehen wird, ist leider mehr als fraglich. Aktivismus, Positionierungsdrang, Kompromissunlust und ideologische Starrheit sind Stolpersteine auf dem Weg zu durchdachten, der Sache verpflichteten Entscheiden. Ein aktuelles Beispiel? Der Tarifeingriff, der die ärztliche Grundversorgung begünstigen soll, faktisch aber zu untragbaren finanziellen Einbrüchen an den Kinderspitälern führt, die voraussehbar waren!
Ich träumte auch davon, dass unsere Gesellschaft die alten Menschen nicht vor allem als Problemfälle und finanzielle Last sieht und ihre Betreuung nicht primär gestützt auf die Lehrbücher der Betriebswirtschaft weiter entwickelt. Natürlich müssen Heime, Spitex-Organisationen und andere Institutionen effizient strukturiert und solide finanziert sein. Es stünde uns aber gut an, daran zu denken, dass es um die Generation geht, die unsere heutige funktionierende Gesellschaft aufgebaut hat und es verdient, dass in jeder Institution für ein einfühlsames Gespräch Zeit zur Verfügung steht, die über die zugeteilten knappen Minuten im Manual des Unternehmensberatungsbüros hinaus geht.
Der Stoff, aus dem die Träume sind, hatte sich noch nicht erschöpft, als mich eine Frage jäh in die Realität zurückholte: Warum greifen viele Träume Themen auf, die eigentlich eher Selbstverständlichkeiten sind. Kann mir das jemand erklären?
werner.bauer[at]saez.ch