Stillen – ein weiteres Feld 
für schädliche Interventionen

Zu guter Letzt
Ausgabe
2018/41
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.17092
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(41):1424

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 10.10.2018

Die jährlich in Genf tagende Weltgesundheitsver­samm­lung (WHA) verfolgt die Aktivitäten der WHO, diskutiert deren strategischen Ziele und ihren Haushalt. So kommen ihr gesundheitspolitische Aufgaben zu, aber auch diplomatische Manöver, deren Zielsetzung nicht in der optimalen Gesundheit dieses Planeten liegt. Dazu ein Beispiel vom Mai 2018.
Seit langem ist die WHO eine aktive Fürsprecherin des Stillens. Wir erinnern uns an die Kontroversen in den 70ern, in denen Nestlé als «Baby Killer» bezeichnet wurde. Ich zählte damals zu ­einer Dele­gation, die am Unternehmenssitz in ­Vevey empfangen wurde. Die Beauftragten der Unternehmensleitung, mit denen wir trafen, betonten zwar vehement die Qualität ihrer Produkte und ihre lautere Absicht, verstanden jedoch kaum, welchen Schaden sie mit ihrer Werbung für den Muttermilchersatz vor allem in den ärmeren Regionen anrichteten: In der Praxis verabreichten die Mütter ihren Kindern nämlich häufig einverwässertes Gemisch (wenn der Schoppen weiss war, war er vermeintlich in Ordnung …). Ausserdem war das verwendete Wasser meist verunreinigt. So entstand der verhängnisvolle, in Studien aufgezeigte Teufelskreis der «Infektion, die zur Mangelernährung führt und den Säugling in der Folge infektionsanfälliger macht». Oft mit tödlichem Ausgang. Die Forderung nach einem Unterlass aller Anreize für den Gebrauch des Muttermilchersatzes war daher vollkommen gerechtfertigt! So kam es 1981 zur Einführung des Internationalen Kodex zur Vermarktung von Muttermilchprodukten.
In diesem Kontext gilt es auch zu erinnern, dass Stillen deutlich mehr von kulturellen als von biologi­schen Faktoren abhängig ist. In Gesellschaften, in denen erwartet wird, dass die Mutter stillt, tut dies auch die grosse Mehrheit (physische/biologische Probleme treten nur äusserst selten auf). Dies gilt für viele rurale Gesellschaften. Wenn nun in diesen sehr «stillfreudigen» Umgebungen verbreitet wird, viele Frauen hätten Probleme beim Stillen, ist dies verheerend und deshalb wichtig, gegen diese Botschaft anzugehen.
Knapp 40 Jahre nach der Einführung des Kodex von 1981 sieht die WHO im Jahr 2018 eine groteske Rückkehr des Lobbyismus im Sinne des Vertriebs von Substituten – zum Nachteil der Kindergesundheit (auch wenn diese Produkte «technisch» korrekt sind). Das Time-Magazin vom 23. Juli 2018 beschreibt mit Be­zug­nahme auf einen New-York-Times-Artikel vom 8. Juli [1] das merkantile Vorgehen der USA: Die Trump-­Ad­mi­nistration wolle eine Resolution verwässern, die auf ein erneutes Engagement zur Förderung des Stillens setzt und generell auf eine Beschränkung der Förderung jener Nah­rungsmittel, die schädliche Konsequenzen für Kinder haben können (zu viel Zucker usw.). Nachdem dieser Vor­stoss scheiterte, wechselte Washington zur Politik des «langen Arms»: Die USA wandten sich Ecua­dor zu – das Land hatte die Resolution auf den Weg gebracht – und forderten es unter Androhung wirtschaft­licher und anderer Strafen auf, einen Rückzieher zu ma­chen. Ecuador gab nach – zur Bestürzung der an­wesen­den Diplomaten und Experten. Auf Nachfrage stellte die US-Administration einfach fest, ihr Vorgehen diene der Unterstützung jener Firmen, die Substitute herstellten.
Die Medien sehen diese Erpressung sehr kritisch. An­merkung des Time-Magazins: «Wer bestimmt, wann der Verzicht auf einen Vorteil [hier für das zu stillende Kind] gefährlich wird? Diese Entscheide werden durch ein ‹hyperkonzentriertes digitales Marketing› noch verschwommener. Die Mütter müssen versuchen, aus Unschärfe und Übertreibung das herauszufiltern, was korrekt/ver­nünf­tig erscheint, wohl wissend, dass es immer jemanden geben wird, der sagt, ,sie habe Unrecht». Dazu die Präsidentin der American Academy of Pediatrics: «Stillen ist keine Frage des Lebensstils; der Entscheid dafür oder dagegen betrifft die Kleinen im Kern.»
Dieser jüngste Vorstoss in Richtung «Gewinn vor Gesundheit» (der Schwächsten unserer Gesellschaft) unterstreicht einmal mehr, wie wichtig es ist, einen kritischen Blick zu bewahren und Fake News zu korrigieren – ein nicht gerade einfaches Unterfangen, wenn zweifelhafte Informationen im Netz wachsen und gedeihen. Allzu häufig suchen profitgierige Interessen danach, wichtige Emp­feh­lungen zu untergraben.