Die Unabhängigkeit der SAMW ist von grosser Bedeutung

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2018/37
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.17118
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(37):1221

Publiziert am 12.09.2018

Die Unabhängigkeit der SAMW
ist von grosser Bedeutung

Walter Kunz (61-jährig, Name und Anamnese etwas geändert) leidet seit einer traumatischen Hirnverletzung 2010 an einer thera­pieresistenten, hirnorganisch mitbedingten Depres­sion. Wiederholte intensive ambulante und stationäre psychiatrische Behandlungen (inkl. EKT und Reha) blieben erfolglos. U.a. wegen seiner motorischen Aphasie, sonst ohne relevante kognitive Defizite, ist er nun völlig vereinsamt. Weitere Therapieversuche lehnt er ab, da alles schon ausprobiert wurde. Er schätzt seine ungünstige Prognose realistisch ein. Da er psychisch konstant schwer leide und jeder Tag für ihn zu einem Kampf werde, habe er nach zwei gescheiterten Suizidversuchen beschlossen, seinem Leiden nun definitiv ein Ende zu setzen, am ehesten mit einem Sprung vor den Zug. Er meldet sich vorher aber beim Hausarzt und bittet ihn um Unterstützung bei einem assistierten Suizid.
Frage an den Vorstand der FMH:
Leidet dieser Patient an einer tödlichen Krankheit oder nicht?
Ist sein Lebensende nah oder nicht?
Halten Sie einen assistierten Suizid hier für vertretbar?
Mit welcher Begründung kommen Sie zu Ihre­m Urteil?
An diesem Beispiel möchte ich aufzeigen, wie ungeeignet und schwierig das vom FMH-Vorstand geforderte Kriterium des nahen Lebensendes respektive der tödlichen Krankheit ist. Erstens ist es sehr unscharf, sowohl zeitlich wie auch betreffend Wahrscheinlichkeit und Ursache der Mortalität. Die Behauptung, ein erfahrener Arzt könne diese Linie scharf ziehen, ist unglaubwürdig. Zweitens zeigt sich hier, dass dieses Kriterium schwer leidende Patienten, die nicht an einer terminalen Erkrankung leiden, diskriminiert, indem diese ihren Zustand bei gesperrter «Ausfahrt Oerlikon» vielleicht noch über Jahre aushalten oder sich für einen Gewaltsuizid entscheiden müssen. Diese Patienten dürfen aber nicht aus dogmatischen Gründen ausgeklammert werden, sondern es sollte die Möglichkeit bestehen, individuell die Lösung zu finden, die am meisten Leiden verhindern kann. Dies erfordert therapeutische Freiheit, gute Ausbildung und Verantwortungsgefühl der Ärzteschaft und nicht deren Bevormundung. Es ist schwer nachvollziehbar, weshalb sich der FMH-Vorstand ohne Not gegen diese stets hochgehaltenen Prinzipien wendet und die eigenen Mitglieder in ihrer Therapiefreiheit und Verantwortung beschneiden will. Hat er kein Vertrauen in die Ärzteschaft? Möchte er den Widerspruch zwischen Standesrecht und bundesgerichtlicher Rechtsprechung resp. gesell­schaftlicher Realität aufrechterhalten? Obwohl die Gerichte den assistierten Suizid ohne terminale Erkrankung seit Jahren als zulässig beurteilt haben, hat der befürchtete moralische Dammbruch nicht stattgefunden. Das zeigt, dass die Ärzteschaft in der Lage ist, verantwortungsvolle Entscheide zu fällen, und mit Freiheit umgehen kann. Diejenigen Ärzte, die entsprechenden Patienten zu einem assistierten Suizid verholfen haben, mussten dafür aber bisher gegen das Standesrecht verstossen. Durch die FMH sanktioniert worden sind sie bis jetzt nicht, aber immerhin könnten sie theoretisch von ihr ausgeschlossen werden. Es ist sehr zu begrüssen, dass diese unbefriedigende Situation nun durch die Übernahme der neuen SAMW-Richtlinien beendet werden könnte.
Oder könnte die Breitseite gegen die SAMW-Richtlinien aufgrund nur eines kritisierten Artikels damit zusammenhängen, dass der FMH-Vorstand Mühe mit der Unabhängigkeit der SAMW bekundet? Wenn jedoch diese Unabhängigkeit in Frage gestellt würde, könnte dies neben der Beeinflussung ethischer Richtlinien durch Partikularinteressen auch zu einem schweren Image-Schaden mit entsprechenden Konsequenzen für die Ärzteschaft in Bevölkerung, Politik, Medien und auch bei den eigenen Mitgliedern führen. Immerhin besteht der Senat der SAMW zu rund 90% aus Ärzten. Eine «ethische Gewaltentrennung» erhöht die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in die Ärzteschaft und ist deshalb von grosser Bedeutung. Die Grösse des Kindes, das der FMH-Vorstand mit der Ablehnung der gesamten Richtlinien nun mit dem Bade ausschütten will, könnte diesbezüglich stark unterschätzt werden.
In diesem Zusammenhang bitte ich den FMH-Vorstand und die Ärztekammer um Besonnenheit und um Vertrauen in die FMH-Mitglieder, dass diese mit ihren Patienten wie bisher auch mit den neuen SAMW-Richtlinien auf Basis der Therapiefreiheit verantwortungsvolle Entscheide auf hohem ethischem Niveau treffen werden. Vielleicht sind wir ja selber einmal froh darum.