In der Budgetfalle
Wie Praxen für ein unbegrenztes Leistungsversprechen herhalten müssen

In der Budgetfalle

FMH
Ausgabe
2018/39
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.17119
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(39):1306-1308

Affiliations
Dr. med., niedergelassener Facharzt für Orthopädie, Unfallchirurgie und Rheumatologie
Vorsitzender des Vorstands der Kassenärztlichen Bundesvereinigung

Publiziert am 26.09.2018

Das in der Schweiz diskutierte Globalbudget ist in Deutschland seit 25 Jahren Realität. Eingeführt in Zeiten von «Ärzteschwemme» und starker Kostenentwicklung ist die Budgetierung dafür verantwortlich, dass Praxen heute bis zu 20 Prozent ihrer Leistungen nicht bezahlt bekommen. Der Unmut wächst beständig, vor allem seitdem die Politik zusätzliche Leistungen fordert. Die deutschen Kassenärzte formieren sich.
Begonnen hat alles mit einer Krise: 1992 steht die Bundesrepublik vor einem rasanten Anstieg der Kosten im Gesundheitsbereich – sowohl im ambulanten wie im stationären Sektor. Gleichzeitig ist die Zahl der Ärzte ungewöhnlich hoch, so dass auf eine ausgeschriebene Assistenzarztstelle in jedem noch so kleinen Provinzkrankenhaus mehr als einhundert Bewerbungen kommen. Im ambulanten Bereich dagegen herrscht für Fachärzte nahezu überall Niederlassungsfreiheit.

Damoklesschwert Wirtschaftlichkeitsprüfung

Selbst wenn das Budget eingehalten wird oder die darüber hinaus erbrachten Leistungen eben nicht oder nur geringfügig vergütet werden, drohen noch Wirtschaftlichkeitsprüfungen. Diese münden im schlechtesten Fall in die Rückforderung von bereits ausgezahltem Honorar – den berüchtigten Regress. Die Praxen müssen dann für bereits Jahre zurückliegende Fälle detailliert nachweisen, warum sie Patienten behandelt haben, obwohl sie ihr Praxislimit bereits überschritten hatten. Können sie ein besonderes Patientenklientel nachweisen oder andere individuelle Erklärungen liefern, wird die Budgetüberschreitung toleriert. Falls nicht, müssen sie bis zu sechsstellige Summen zurückzahlen.
Die meisten Kassenärztlichen Vereinigungen verfahren jedoch nach dem Prinzip «Beratung vor Regress». Sie treten also an auffällig gewordene Praxen heran und geben Hinweise, wie die Budgetüberschreitungen zu vermeiden sind. Erst bei wiederholter Auffälligkeit werden die Eskalationsstufen bis hin zum Regress beschritten. Regresse schweben zwar wie das Damo­klesschwert über den Praxen, geschehen aber selten.
Die damalige Bundesregierung will das Kostenpro­blem mittels zweier Massnahmen in den Griff bekommen. Erstens setzt man eine Budgetierung für Krankenhäuser und für die ambulanten Arztpraxen durch. Gleichzeitig wird für die Kliniken mit der Privatisierung das Wettbewerbsprinzip eingeführt. Zweitens geht man bei den ambulant tätigen Ärzten, die zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung abrechnen dürfen, den gegenteiligen Weg: Die sogenannten «Kassensitze» werden jetzt «beplant», die Zahl von Haus- und Fachärzten einer Region wird also mittels einer Bedarfsplanung reguliert. Nur wer einen Sitz aus ­dieser Bedarfsplanung zugeteilt bekommt, kann gesetzlich Versicherte – die 90 Prozent der Bevölkerung stellen – auf Kosten ihrer Krankenversicherung behandeln.
In das System wurden also zwei Schranken eingezogen: Das Volumen der zur Verfügung stehenden Finanz­mittel wurde gedeckelt. Und die Zahl der Ärzte, die ambulante Leistungen abrechnen können, wurde ebenfalls festgesetzt. Die Budgetierung stellte damit das bis dahin geltende Modell von den Füssen auf den Kopf: Es mussten nicht mehr die Einnahmen die Ausgaben decken, neu durften die Ausgaben die Einnahmen nicht übersteigen.

Kernproblem: begrenztes Budget bei ­unbegrenztem Leistungsanspruch

Sowohl bei der Festlegung des Budgets als auch bei der Festsetzung der Ärztezahlen wird die Dynamik von steigendem Leistungsbedarf und damit steigenden Kosten mehr schlecht als recht abgebildet. Bei der Festlegung der Finanzmittel sind Mechanismen eingeführt, um das Volumen anhand von demographischen Kriterien und anhand von Morbiditätsmessungen anpassen zu können. Bei der Planung der Arztsitze können regionale Sonderbedarfe geltend gemacht werden. Beides geschieht in Deutschland über die sogenannte gemeinsame Selbstverwaltung, also über Verhand­lungen von Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und gesetzlichen Krankenkassen. Diesen beiden Beschränkungen von finanziellen Mitteln und freipraktizierenden Ärzten steht allerdings eine dritte Dynamik gegenüber, die so gut wie keiner Beschränkung unterliegt: die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen durch die Patienten. Für sie gilt das Prinzip der freien Arztwahl, eine Selbstbeteiligung gibt es nicht. Auch eine echte Patientensteuerung über den Hausarzt ist in Deutschland nicht vorgesehen.
Die zentrale Frage, die sich in einem budgetierten Gesundheitswesen stellt, lautet deshalb: Wie vertragen sich der nahezu unbegrenzte Leistungsanspruch der Ver­sicherten und der weitestgehend ungesteuerte Zugang zur ambulanten Gesundheitsversorgung mit der Deckelung der Kosten dieser Versorgung?
Diese Frage ist bis heute nicht beantwortet, und es ist augenfällig, dass sich die Politik scheut, ernsthaft und grundsätzlich darüber nachzudenken. Der erste Versuch einer Steuerung über die Patientenzuzahlung (die «Praxisgebühr» in Höhe von 10 Euro je Quartal) wurde aus politischen Gründen und wegen Fehlern in der Grundsystematik bereits wenige Jahre nach Einführung beendet. Weitere Versuche zur Beantwortung dieser Frage werden bislang nicht unternommen. Die deutschen Kassenärzte haben ein Wahltarif-Modell vorgeschlagen, das eine fakultative, dann aber verbindliche Steuerung über den Hausarzt vorsieht. Kein politischer Akteur ist bisher darauf eingegangen.

Konkrete Folgen der Budgetierung: Ärzte haften für Leistungsversprechen der Politik

Deshalb ist es in Deutschland unverändert so, dass wir durch das Prinzip der freien Arztwahl und der uneingeschränkten Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen einen permanenten Anstieg der Arzt-Patienten-Kontakte (2017: etwa 1 Milliarde) und der Behandlungsfälle sehen (2017: etwa 600 Millionen). Gleichzeitig werden die Leistungen nur im Rahmen des Budgetdeckels, also quotiert vergütet. Das bedeutet im Klartext: Für 1 Euro auf der Abrechnung finden sich auf dem Konto nur 90 oder schlechtestenfalls 75 Cent wieder.
Der Anteil der nur anteilig vergüteten Arbeit ist regional und nach Fachgruppen verschieden. In manchen Bezirken der Kassenärztlichen Vereinigungen ist die abgerufene Leistungsmenge vom Budgetvolumen nahe­zu gedeckt. Das ist in einigen – wenn auch längst nicht allen – ländlich geprägten KVen im Hausarztbereich so. In manchen Stadtstaaten dagegen beträgt die Quotierung1 bei den Hausärzten 25 Prozent. Vor allem aber im fachärztlichen Bereich sind in allen Fächern hohe Quotierungen zu beobachten.
Was heisst das für die einzelne Praxis? In erster Linie muss jeder Arzt und jede Ärztin die grundsätzliche Entscheidung treffen, sich entweder auf eine permanente Selbstüberprüfung der im bisherigen Quartal «verbrauchten» Budgets einzulassen oder die drohende Quotierung der Leistungen hinzunehmen. Es gibt Kollegen, die sich für den letzteren Weg entscheiden. Viele aber registrieren genau, ab wann sie ihre Patienten rechnerisch für umsonst behandeln.
Wann dieser Punkt erreicht ist, bestimmen die von den Kassenärztlichen Vereinigungen vorgegebenen sogenannten «Regelleistungsvolumen». Diese Regelleistungsvolumina geben jeder Praxis ein regionales Volumen der Fachgruppe vor, das höchstens erreicht werden darf. Wird es überschritten, können die Leistungen zwar abgerechnet werden, werden aber nur anteilig vergütet. Ähnlich verhält es sich bei den Budgets für Arzneimittel und Hilfsmittel (zu denen in Deutschland auch die Verordnung von Physiotherapie gehört).

Wie umgehen mit der Budgetierung? Die kollektive und die individuelle Perspektive

Auf der kollektiven Ebene sind in einer budgetierten Welt vor allem die Höhe des Budgets und seine Weiterentwicklung zentral. Beides ist unmittelbar davon abhängig, wie viel Finanzmittel die Gesellschaft für ihre medizinische Versorgung auszugeben bereit ist – und damit ein politischer Entscheid.
Bei der erstmaligen Budgetfestsetzung kann man sich an dem bisherigen Ausgabenniveau orientieren. Die Systematik der Fortschreibung des Budgets muss dann aber die Frage beantworten, ob die Gesellschaft künftig den gleichen oder ggf. einen höheren Anteil ihres Einkommens für die Gesundheitsversorgung auszugeben bereit ist.
Soll der Anteil stabil bleiben, darf das Budget nur mit der Höhe der Einnahmen der Krankenversicherung wachsen. Da in alternden Gesellschaften die Leistungsinanspruchnahme in der Regel stärker steigt als die Einnahmen, erhalten im Ergebnis die Ärzte kollektiv nicht mehr alle Leistungen vergütet. Berücksichtigt man stattdessen bei der Weiterentwicklung des Budgets die Entwicklung von Kosten und Morbidität, wäre auch eine Erhöhung des Anteils des Einkommens für die Gesundheitsversorgung notwendig – dies bedarf entsprechender politischer Entscheidungen.
Auf der individuellen Ebene des einzelnen Arztes werden dramatische Konsequenzen der Einführung eines Kollektivbudgets deutlich. Die Spieltheorie kennt hier das «Gefangenendilemma» – schon das Wort verheisst nichts Gutes. In diesem Dilemma befinden sich die einzelnen Ärzte im System eines Kollektivbudgets:
– Ich weiss, die Menge des Geldes reicht nicht für alle Leistungen, also bekomme ich nur einen Teil meiner Leistungen bezahlt.
– Ich weiss, dass meine Kollegen das auch wissen. Würden wir beide nur – sagen wir – 95 Prozent der Leistungen erbringen, reicht das Geld für alle erbrachten Leistungen.
– Ich weiss aber nicht, wie sich meine Kollegen verhalten. Ich weiss nur, dass derjenige, der mehr Leistungen erbringt, auch einen höheren Anteil des Geldes erhält.
Die Konsequenz eines solchen Gefangenendilemmas lautet leider: Jeder erbringt, so viel er kann. So verhalten sich rationale Indi­viduen in dieser Situation, obwohl nicht mehr Geld zur Ver­fügung steht. Die Ärzte kannibalisieren sich in so einer Welt, der Kollege wird zum Gegner im Verteilungskampf um das Budget.
Um dies zu vermeiden, gibt es innerhalb der Budgetwelt nur eine Lösung: Das kollektive Budget muss zwingend in kleine hand­liche individuelle Budgets – letztlich bis auf Ebene der einzelnen Praxen («Regelleistungsvolumina») – zerlegt werden. Diese Aufgabe ist seit Einführung der Budgetierung in Deutschland nicht zufriedenstellend gelöst. Für die bei einem kollektiven Budget unumgänglichen Verteilungsdiskussionen um die Budgetanteile gibt es auch keine korrekte Lösung, es gibt nur temporär akzeptable lösungsartige Zustände, also politisch akzeptierte Verteilungsergebnisse.

Die Situation im Jahr 2018: staatlich verordnete Mehrarbeit ohne Honorar­ausgleich?

Seit den 1990er Jahren hat sich das ambulante System stark verändert. Neben der Zunahme von chronischen Krankheiten und multimorbider Patienten sowie der allgemeinen Alterung der Bevölkerung hat sich auch die Kollegenschaft geändert. Aus der sogenannten Ärzteschwemme ist eher ein Ärztemangel geworden. Genauer gesagt: ein Mangel an zur Verfügung stehender Arzt-Arbeitszeit. Die jüngeren Kollegen sind nicht mehr bereit, 50 bis 60 Stunden pro Woche zu arbeiten. Hinzu kommen mehr Kollegen in Anstellung und in Teilzeit. Weniger Ärzte müssen also mehr – budgetierte – Leistungen erbringen.
Gleichzeitig ist in der Bevölkerung ein Mentalitätswandel zu beobachten. Aus dem Prinzip der freien Arztwahl wird ein vermeintlicher Jetzt-sofort-Anspruch abgeleitet mit der Folge von ungesteuerten Doppeluntersuchungen im Sinne eines allgegenwärtigen Konsumprinzips. Viele Patienten wollen heute ­alles und sofort, was auch an der enormen Über­lastung der Notfallambulanzen mancher Kliniken zu sehen ist, wo Patienten vorstellig werden, um längst bekannte Beschwerden als Notfall behandeln zu lassen. Im Bundestagswahlkampf 2017 war dieser Kulturwandel ein grosses Thema, jedoch in bejahender Weise. So prägte vor allem die SPD den Kampfbegriff der «Zweiklassenmedizin» und forderte nicht nur schnellere Terminvergaben für gesetzlich Versicherte, sondern insbe­sondere auch eine tiefgreifende Änderung des Versicherungssystems zugunsten einer einheitlichen «Bürgerversicherung» für alle.
Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung enthält nun zwar keine Bürgerversicherung, dafür aber eine­n Passus, wonach Kassenärzte pro Woche fünf Sprechstunden mehr anbieten müssen – bei einer Wochenarbeitszeit von sowieso schon durchschnittlich 50 Stunden. Noch in diesem Jahr ist dazu eine gesetzliche Regelung zu erwarten. Dies ist nicht nur ein skandalöser Eingriff in die Berufsfreiheit der deutschen Vertragsärzte und ein massiver Eingriff in die ärztliche Selbstverwaltung. Es offenbart sich auch eine Überdehnung des Budgetprinzips, die für die Kassenärzte nicht mehr hinnehmbar ist. Sie würde eine staatlich verordnete Mehrarbeit ohne Honorarausgleich bedeuten.
Folgerichtig ist die Politik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) in diesen Monaten darauf ausgerichtet, diese Vorgabe des Koalitionsvertrages als Argument zu nutzen, um das Prinzip der Budgetierung aufzubrechen. Mit konkreten Vorschlägen, an welchen Stellen Leistungen vom Budget ausgenommen werden können, bringen sich die Vertragsärzte konstruktiv in den laufenden Gesetzgebungsprozess ein. Für die KBV und die regionalen KVen ist dabei vollkommen klar: Die Budgetierung muss weg, in all ihren Facetten!
Insofern sind die derzeitigen Vorschläge zur Entbudgetierung von Grundleistungen nur der Einstieg in den Ausstieg. Denn die Budgetierung mag sich zu einem spezifischen historischen Zeitpunkt kurzfristig bewährt haben, als einer künstlich begrenzten Zahl von Ärzten ein begrenztes Budget gegenüberstand, um die Kosten zu dämpfen. Heute liegen die Dinge aber vollkommen anders – heute zeigt das Instrument der Budgetierung eine kontraproduktive Wirkung, weil es den Nachwuchs von der Niederlassung abschreckt. Es gehört deshalb zugunsten einer verantwortungsvollen Patientensteuerung, wie sie es in der Schweiz grösstenteils schon gibt, abgeschafft.

Beispiel Radiologie

Wie hoch soll das Budget eines Radiologen sein? Macht es einen Unterschied, ob es sich um einen rein konventionell tätigen Radiologen oder um Radiologen mit CT oder MRT oder CT und MRT handelt? Welche Rolle spielt der Anteil der Patienten, zu deren Diagnostik konventionelle Bildgebung oder CT- und/oder MRT-gestützte Diagnostik notwendig ist? Wie ist damit umzugehen, dass der Patient zum Radiologen überwiesen wird, der Radiologe also wenig Einfluss auf Grösse und Art des Patientenkollektivs hat? Welches Budget erhalten kooperative radiologische Einrichtungen – ist hier die Anzahl der Radiologen relevant oder die der Geräte?
Ähnliche Fragestellungen gelten für andere Arztgruppen: Muss das Budget dem individuellen Tätigkeitsspektrum Rechnung tragen oder muss sich das Tätigkeitsspektrum dem Budget unterordnen – wo bleiben Therapiefreiheit und Spezialisisierung? Wer beantwortet all diese Fragen? Wer vertritt wem gegenüber die Interessen der einzelnen Arztgruppen bei der Budgetzerlegung?
Dr. Andreas Gassen
Kassenärztliche Bundes­vereinigung
Herbert-Lewin-Platz 2
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