Ein Kanon bezeichnet die auserwählten Werke, das, was dogmatisch richtig ist. Anläufe zu weltlichen Listen exemplarischer Werke hat es immer wieder gegeben. Hitparaden ihrer jeweiligen Zeit. Sie sollen einen Wertekonsens vermitteln, eine Grundlage für Debatten, einen allseits bekannten Fundus von Bildern, Erzählungen und Musikstücken. Je fragmentierter eine Gesellschaft ist, je mehr Menschen sich ausschliesslich in ihren Echokammern aufhalten, desto hitziger die Bildungsdiskurse. Für den deutschen Sprachraum hat der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, vor bald zwanzig Jahren, mit einer Anthologie unumgänglicher Bücher dagegengehalten. Wenn Bildung etwas mit der Entwicklung von Persönlichkeit zu tun hat, wird auch die Digitalisierung nichts daran ändern. Zur Arbeit mit Normen und Standards gehört die Auseinandersetzung mit Texten und Theorien. Ohne Anstrengung geht nichts, doch gemäss Ranicki darf die Literatur auch Spass machen. Die Rede ist von kulturellen Leitplanken, von einem gemeinsamen Bezugsrahmen, von Inklusion und Identität. Anspruchsvoller als der Entschluss des Bayerischen Landeskabinetts, in jeder Behörde ein Kreuz aufzuhängen. Ein Kanon ändert sich mit jeder Generation, einiges hat Bestand, vieles verschwindet. In allen Darstellungen werden immer Menschen sich selber finden, ein Abbild dessen, wie sie die Welt sehen und erleiden. Messen lässt sich das unter anderem an der Wirkungsgeschichte von Büchern, wie sie beispielhaft der Historiker Urs Bitterli in seiner Kulturgeschichte «Licht und Schatten über Europa 1900–1945» erzählt. Ein Kanon der anderen Art, fünfzig Publikationen, die zu ihrer Zeit Millionen Menschen beeinflusst haben. Spiegel einer turbulenten Epoche, in der viel Kanonisches, das lange Zeit unverzichtbar schien, zugrunde ging.