Zur Entwicklung der medizinischen Begutachtung in der Schweiz

Ausbildung der medizinischen Gutachter und Qualität der Gutachten

Tribüne
Ausgabe
2018/42
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.17131
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(42):1466-1468

Affiliations
a Dr. med., MAS Versicherungsmedizin; Vorsitzender der Weiter- und Fortbildungskommission der SIM;
b Dr. med., M.H.A., Präsident der Swiss Insurance Medicine SIM

Publiziert am 17.10.2018

Die Geschichte der medizinischen Begutachtung in der Schweiz geht auf über hundert Jahre zurück [1].
Im Jahre 1912 haben sich unfallmedizinisch engagierte Schweizer Ärzte vereinigt und in Bern die «Gesellschaft der Schweizer Unfallärzte» gegründet, um wichtige Unfall- und Standesfragen zu studieren. 1928 gab es eine Umbenennung zur «Schweizerischen Gesellschaft für Unfallmedizin und Berufskrankheiten» (SGUB). Im Jahre 1992 entstand daraus die «Schweizerische Gesellschaft für Traumatologie und Versicherungsmedizin» (SGTV). Seit Beginn im Jahre 1912 haben sich diese Ärzte – unabhängig von der Namensgebung – immer auch mit der medizinischen Begut­achtung im Unfall- wie auch im Haftpflichtversicherungsbereich auseinandergesetzt.
1978 wurde in Basel die erste Medizinische Abklärungsstelle (MEDAS) gegründet, welche im Auftrag der Invalidenversicherung Begutachtungen durchführte. Nach und nach wurden in der ganzen Schweiz solche MEDAS gegründet und in den letzten Jahren haben diese Begutachtungen relativ stark zugenommen, da die Rechtsprechung sowie Gesetzesrevisionen dazu ­geführt haben, dass diese polydisziplinären Gutachterstellen verstärkt in die Begutachtungen mit einbezogen werden müssen.
Die erste Untersuchung zur Qualität der Begutachtung in der Schweiz wurde von Meine im Jahre 1998 durchgeführt.
In seiner Untersuchung von 262 medizinischen Gutachten aus dem Unfallversicherungsbereich der Privatversicherer fand er, dass 35% einwandfrei, 36% lückenhaft und 29% schwer mangelhaft waren. Es musste also etwas für die Qualitätssteigerung gemacht werden.
Noch im selben Jahr wurde erstmals der Gutachterkurs im Unfallversicherungsbereich durch die Suva und den Schweizerischen Versicherungsverband (SVV) orga­nisiert und durchgeführt. Der Kurs wurde von Versichertenvertretern als zu einseitig durch die Versicherer organisiert kritisiert; deswegen übernahm in der Folge auf Anfrage der Versicherer die Schweizerische Ärztegesellschaft (FMH) die Schirmherrschaft für diese Gutachterkurse.

Ausbildung zum medizinischen Gutachter in der Schweiz

Nach der Gründung der Swiss Insurance Medicine (SIM) im Jahre 2003 hat die FMH die SIM gebeten, die Gutachterkurse weiterzuführen und auf die übrigen Versicherungsbereiche auszudehnen, einen modularen Aufbau zu gestalten, die Qualität weiter zu verbessern unter Wahrung der Neutralität und Ausschluss ­eines Sponsorings.
Um die Neutralität zu gewährleisten, wurde der gesamte Fortbildungskurs, bestehend aus vier zweitägigen Modulen, in einer Arbeitsgruppe unter Einschluss von medizinischen Fachgesellschaftsvertretern erarbeitet.
Die Referentinnen und Referenten stammen aus juristischen- und medizinischen Fakultäten der Universitäten, aus freien Arzt- und Anwaltspraxen, aus Begutachtungsinstitutionen und Sozial- und Privatversicherern.
Die vier Module sind in sich abgeschlossen. Der Kurs beginnt mit einem Basismodul, das sich vorwiegend auf die rechtlichen und versicherungstechnischen ­Aspekte der Erstellung von Gutachten bezieht. Der Besuch dieses Basismoduls ist z. B. Bedingung für die Erlangung des Facharzttitels Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates in der Schweiz; dasselbe gilt neu auch für die Erlangung des Facharzttitels Neurologie.
Das zweite Modul befasst sich vor allem mit der Begutachtung der Problematik zwischen Psyche und Soma; die Module drei und vier sind fachspezifisch und werden in enger Zusammenarbeit mit den medizinischen Fachgesellschaften durchgeführt.
Zur Erlangung des Zertifikates muss nach Absolvierung aller vier Module eine Multiple-Choice-Prüfung bestanden werden.
Seit 2008 wurden bis heute 1377 Zertifikate an medizinische Gutachterinnen und Gutachter übergeben.
Die Registrierung auf der SIM-Webseite erfolgt auf freiwilliger Basis.
Alle fünf Jahre müssen sich die Gutachter rezertifizieren lassen. Dies bedingt den Nachweis einer kontinuierlichen Fortbildung von mindestens 50 Stunden an versicherungsmedizinischen Veranstaltungen, welche von der SIM anerkannt werden.
Seit Anfang 2017 gibt es ein fünftes Modul. In diesem werden verschiedene Sequenzen bei der Begutachtung von verschiedenen Krankheiten und Unfallfolgen in dafür speziell angefertigten Filmen vorgestellt und dann mittels Audience Responce System (ARS) diskutiert. Damit wird eine möglichst authentische und interaktive Ausbildungsform eingesetzt.
Dieses Modul ist als weitere Voraussetzung für den in Vorbereitung stehenden Fähigkeitsausweis Medizinische Begutachtung vorgesehen.

Qualität der Gutachten in der Schweiz

Seit der ersten Studie der Begutachtungsqualität von Meine wurden weitere entsprechende Studien durchgeführt. Innerhalb dieser beobachteten 20 Jahre konnte der Prozentsatz der brauchbaren und auch überzeugenden Gutachten von 35% [2] über 51% [3] auf 77% [4 ]und weiter auf 86% [5] gesteigert und gehalten werden. Es ist anzunehmen, dass diese Qualitätssteigerung zum einen mit den Weiterbildungskursen der Swiss Insurance Medicine SIM zu tun hat, zum andern aber auch der Umstand, dass die ­Gutachten mehr und mehr evaluiert werden und die Gutachterinnen und Gutachter, welche den An­forderungen nicht genügen, keine Aufträge mehr erhalten.
Einen weiteren Anteil zur Qualitätssteigerung der gutachtlichen Qualität haben die von verschiedenen Fachgesellschaften erarbeiteten Leitlinien zur Begutachtung beigetragen.
In der Schweiz gibt es solche schon seit mehreren Jahren und zwar für die Fachrichtungen der Psychiatrie (2004, 2012 und 2016 [6]), Rheumatologie (2007 und 2016 [7]) und der Orthopädie (2017 [8]). In den aktuellen Leitlinien ist ein Bundesgerichtsentscheid BGE 141 V 281 vom 3. Juni 2015 berücksichtigt worden, in welchem die Richter fortan ein strukturiertes Beweisverfahren anhand vorgegebener Indikatoren verlangen. Ein Bundesgerichtsentscheid BGE 143 V 418 vom 30. November 2017 weitete die Rechtsprechung auf alle psychischen Störungen aus, wobei die entsprechende, daraus abgeleitete gutachtliche Vorgehensweise mit den aktuellen Leitlinien kompatibel ist.
Die Neurologen arbeiten noch an ihren fachspezifischen Leitlinien und werden diese voraussichtlich Ende 2018 veröffentlichen.
Um die fachspezifischen Leitlinien den Gutachtern ­näher zu bringen, haben der Rheumatologe Jörg Jeger und der Psychiater Gerhard Ebner in den beiden Medinfo-Ausgaben 2017/2 [9, 10] und 2018/1 [11, 12] sowie in der Zeitschrift «Versicherungsmedizin» [15, 16] die entsprechende Anwendung anhand von Fällen sehr gut dargestellt.
Im Jahre 2017 hat das Bundesamt für Sozialversicherungen eine Studie zur ärztlichen Aus-, Weiter- und Fortbildung der medizinischen Gutachterinnen und Gutachter in Auftrag gegeben [13]. Grund hierfür war, dass die Qualität der Gutachten wie auch die Unabhängigkeit der medizinischen Gutachter von der Öffentlichkeit und den Medien immer wieder in Zweifel ­gezogen wurden.
Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass die erwähnten Zweifel nicht berechtigt sind. Die medizinischen Gutachterinnen und Gutachter sind erfahren, gut qualifiziert und arbeiten vorwiegend in der Schweiz. Sie ­weisen ein breites Spektrum an Facharzttiteln auf und haben zu rund drei Vierteln einen Fortbildungs­abschluss in Versicherungsmedizin; am häufigsten verbreitet sind die Zertifikate der Swiss Insurance ­Medicine. Rund die Hälfte der Gutachterinnen und Gutachter arbeitet zu weniger als 25% in der Be­gutachtung; knapp ein Drittel wendet zwischen 25 und 50% ihrer Arbeitszeit für die gutachterliche ­Tätigkeit auf; es besteht also keine finanzielle Abhängigkeit.
Trotz dieser äusserst positiven Erkenntnisse gibt es doch Handlungsbedarf, der vorwiegend von den Gutachterinnen und Gutachtern selber ausgesprochen wurde, denn diese wünschen sich einen stärkeren Praxisbezug der Bildungsangebote und vermehrt medizinisch-juristische Fortbildungen.
Diese Anliegen müssen von der Swiss Insurance zusammen mit den Fachgesellschaften aufgenommen, Lösungen erarbeitet und dann umgesetzt werden.
Umfassende Ausführungen zum Thema kann man in der eben erschienenen zweiten und überarbeiteten Auflage «Medizinische Begutachtung in der Schweiz» auf der Webseite der SIM nachlesen oder bei der SIM als Broschüre bestellen [14].
Den Autoren ist bewusst, dass zur Sicherung der gutachtlichen Qualität über die Aus-, Weiter- und Fortbildung hinaus weitere Massnahmen erforderlich sind; hierzu gehören u. a. eine systematische Evaluation von versicherungsmedizinischen Gutachten anhand leit­linienkonformer, operationalisierter Kriterien, wie sie teilweise bereits von Versicherern durchgeführt und aktuell von weiteren vorbereitet wird.

Fazit

In der Schweiz machen wir als SIM in Zusammenarbeit mit den medizinischen Fachgesellschaften seit vielen Jahren eine qualitativ hochstehende Aus- und Fortbildung in medizinischer Begutachtung und wir konnten dadurch die Qualität der Gutachten klar verbessern. Qualitätsleitlinien leisten ihren Beitrag ebenfalls dazu. Es gibt weiteren Handlungsbedarf, den wir als SIM in Zusammenarbeit mit den Fachgesellschaften gerne aufnehmen.
Es ist uns klar, dass wir diese Aus- und Fortbildung aus der Ärzteschaft heraus steuern müssen, ansonsten kommt unweigerlich das Verdikt der Politik oder der Verwaltung. Ein Fähigkeitsausweis «Medizinische Begutachtung» könnte hier schon einmal Einhalt ge­bieten.
Dr. med. Bruno Soltermann
Swiss Insurance Medicine
c/o Medworld AG
Sennweidstrasse 46
CH-6312 Steinhausen
bruno.soltermann[at]svv.ch
www.sim-ig.ch
 1 Soltermann B. Versicherungsmedizin – eine Auslegeordnung aus schweizerischer Sicht. Versicherungsmedizin 67 Heft 3, 2015
 2 Meine J. Ärztliche Begutachtung in der Schweiz – Erfüllt sie die heutigen Qualitätsanforderungen? Swiss Surgery 4:53-7, 1998
 3 Ludwig CA. Medizinische Mitteilungen der Suva 77:5-16, 2006
 4 Auerbach H, Bollag Y., et al. MGS Medizinische Gutachtensituation in der Schweiz: «Studie zur Einschätzung der Marktsituation und zur Schaffung von Markttransparenz und Qualitätssicherung». Schlussbericht vom Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie WIG und der Academy of Swiss Insurance Medicine (asim) 2011
 5 Ludwig CA, Schaumann-von Stosch R. Suva-Gutachten-Clearing und die Qualität medizinischer Expertisen. Suva Medical, 2012
 6 Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Qualitätsleitlinien für versicherungspsychiatrische Gutachten. www.psychiatrie.ch/sgpp, 2016
 7 Schweizerische Gesellschaft für Rheumatologie. Leitlinien für die rheumatologische Begutachtung. www.rheuma-net.ch, 2016
 8 Schweizerische Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie (Swissorthopaedics). Leitlinien für die orthopädische Begutachtung. www.swissorthopaedics.ch, 2017
 9 Jeger J. Die Verwendung der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) in der somatischen Begutachtung. Medinfo 2017/2
10 Ebner G. ICF und Begutachtung in der Psychiatrie; Medinfo 2017/2
11 Jeger J. Die Verwendung der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) in der somatischen Begutachtung (Teil 2); Medinfo 2018/1
12 Ebner G. ICF und Begutachtung in der Psychiatrie – ein praktisches Beispiel; Medinfo 2018/1
13 Laubereau Birgit, Müller Franziska, Hanimann Anina, Balthasar Andrea. Ärztliche Aus-, Weiter- und Fortbildung der medizinischen Gutachterinnen und Gutachter; Schlussbericht zuhanden des Bundesamtes für Sozialversicherungen; Interface Politik­studien Forschung Beratung; Luzern; 2017
14 Soltermann B. Medizinische Begutachtung in der Schweiz, SIM 2018.
15 Ebner G. ICF und Begutachtung in der Psychiatrie, Versicherungsmedizin70, Heft 3, 2018
16 Jeger J. Die Verwendung der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) in der somatischen Begutachtung. Versicherungsmedizin70, Heft 3, 2018