Musikermedizin: Orchideenfach oder Notwendigkeit?

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Ausgabe
2018/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.17184
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(40):1359-1360

Affiliations
Präsidentin SMM, Diplompsychologin FSP

Publiziert am 03.10.2018

Im Laufe der Berufsjahre, oft auch bereits während der Ausbildung, entwickeln zahlreiche Musiker/innen charakteristische somatische und psychische Beschwerden, die zumindest mitbedingt sind durch das professionelle Instrumentalspiel oder Singen. An der Spitze der Beschwerden bei Musiker(inne)n stehen Schmerz­syndrome. Es macht keine Mühe, sich etwa eine Violinistin vorzustellen, die stundenlang den linken Unterarm verdrehen und mit dem rechten Arm den Bogen bewegen muss, um ihrem Beruf als Musiklehrerin oder Orchesterspielerin nachgehen zu können. Aber auch bei Bläsern ist die gesundheitliche ­Belastung enorm durch mühselige Haltungen oder die intensive Beanspruchung von Lippen und Zähnen. Die schmerzhaften Probleme des Bewegungsapparates sind überwiegend Folgen einer dauerhaften, exzessiven Arbeit mit einem unergonomischen «Handwerkszeug», da bauliche und spieltechnische Eigenschaften der Instrumente im allgemeinen nicht unseren natürlichen physischen Anlagen entsprechen. Sie erfordern oft einseitige Körperhaltungen in physiologischen Grenz­bereichen. Ausserdem steht die Entwicklung von Beschwerden in Bezug zur jewei­ligen körperlichen und psychischen Disposition der Musiker/innen, zum konkreten beruflichen und pri­vaten Umfeld sowie zum ­Repertoire, den Übe-Gewohnheiten und der persönlichen Instrumentaltechnik. Auch aus­sermusikalisch zugezogene Verletzungen und Erkrankungen können für eine/n professionelle Musiker/in leicht zum gravierenden Hindernis bei der Berufs­ausübung werden. Durch die immer grösser werdende Lautstärke der musikalischen Darbietungen sind schliesslich alle Krankheitsbilder rund um das Ohr von grosser Bedeutung.
Relativ häufig sind Probleme aus dem psychischen Formenkreis, insbesondere rund um den Stress. Hierbei spielen Auftrittsängste eine besonders grosse Rolle. Auch lässt sich leicht vorstellen, was es heisst, abends pünktlich um 19.30 Uhr mehrmals in der Woche in der Züricher Tonhalle seine Höchstleistung abzurufen. Die oft perfektionistische Erwartungshaltung von Künst­ler(inne)n, das hörverwöhnte Publikum und der leistungsorientierte Musikbetrieb verzeihen keine Fehler. So wachsen werdende Berufsmusiker/innen bereits mit der Kultur der Perfektion auf und sind auch innerpsychisch nur schwer in der Lage, sich selber einen Fehler zu verzeihen. Das und mehr sind die Grund­lagen des beschwerlichen Lampenfiebers mit allen, auch physiologisch mühsamen, Auswirkungen. Un­regel­mäs­sige Arbeitszeiten, hierarchische Strukturen in Orchestern, Konkurrenzdruck, oft auch finanzielle Probleme führen bei entsprechender Disposition und nicht aus­reichenden individuellen Ressourcen nicht selten zu einer burn-out Problematik.
Musikererkrankungen sind also durch viele indivi­duell unterschiedliche Faktoren geprägt und gehen mit äusserst facettenreichen Beschwerdebildern einher, welche in anderen Berufsgruppen in entsprechender Form und beruflicher Konsequenz kaum anzutreffen sind. Daher ist häufig eine spezifische Betreuung durch Ärzte bzw. Ärztinnen und Therapeut(inn)en notwendig, die über eine profunde Kenntnis des Berufsbildes und der Gegebenheiten beim professionellen ­Instrumentalspiel und/oder Gesang verfügen. 
Zum Zwecke der Förderung der Musikermedizin ist die «Schweizerische Gesellschaft für Musik-Medizin», kurz SMM, 1997 in Bern gegründet worden. Ausgangspunkt der SMM war ein gesundheitliches Problem der damaligen Posaunistin und Initiantin Pia Bucher, die für eine Lösung nur schwer geeignete Ansprechpartner in der Schweiz finden konnte. Bis heute ist diese praktische Haltung von zentralem Interesse in der Arbeit der SMM. Wir wollen den Musiker(inne)n in der Ausübung ihrer Berufe beistehen und Hilfestellungen für den beruflichen Alltag anbieten. Dafür haben wir z.B. eine SMM-eigene kostenlose Beratungsstelle eingerichtet, die aktuell vom Vizepräsidenten Dr. med. Peter Schönenberger geleitet wird. Hier können sich betroffene Personen mit ihren Anliegen melden. Angehört werden selbstverständlich auch die sogenannten «Laienmusiker/innen», die es in der Schweiz in grosser Anzahl in vielen Ensembles gibt. Im besten Fall können die Betroffenen an geeignete Ärzte/-innen und Therapeut/innen nahe ihres Wohn- oder Arbeitsumfeldes vermittelt werden. In Basel, Bern, Locarno, Luzern und Zürich können sich Musiker/innen im Bemühen um ihre Gesundheit in interdisziplinären Musikersprechstunden den geeigneten Fachpersonen vorstellen. Ein einzigartiges Beispiel ist die interdisziplinäre Musikersprechstunde an der Zürcher Hochschule der Künste. Sie ist eng mit den von Prof. Dr. med. Horst Hildebrandt in über 20 Jahren aufgebauten musikphysiologischen Angeboten in Lehre, Forschung und Beratung verbunden. Im Jahr 2009 wurde hier u.a. das 1964 am Max-Planck-Institut in Dortmund entwickelte Hand­labor nach Zürich übernommen, erweitert und modernisiert. Dieses Labor hilft bei der wissenschaftlichen Begründung eineran die individuellen physiologischen Bedingungen angepassten Instrumentaltechnik, Diagnostik und Therapie.
Wesentliches Interesse der SMM ist somit, nebst der wissenschaftlichen Fundierung der praktischen Arbeit, ein schweizweit funktionierendes Netz von in­terdisziplinären Fachpersonen aufzubauen, die Ansprechpersonen für die Probleme der Musiker sein können. Unsere Mitglieder bestehen im Moment zu je etwa einem Drittel aus Ärzt(inn)en, Psycholog(inn)en, Therapeut(inn)en verschiedenster Fachrichtungen und MusikerInnen. Wir suchen laufend nach neuen Mitgliedern, um unsere Musiker/innen noch adäquater beraten und vor allem wohnortnah besser betreuen zu können.
Wichtig sind auch Kooperationen mit schweizerischen und ausländischen Berufsverbänden und Fachgesellschaften. In enger Zusammenarbeit ist mittlerweile ein intensiver internationaler Wissensaustausch im Rahmen gemeinsamer Kongresse möglich. Auch ­existiert eine Vielzahl nationaler und internationaler ­musikermedizinischer Publikationen in Büchern und Fachzeitschriften.
Einen wesentlichen Schwerpunkt bildet die Prävention von Musikerkrankheiten. Durch Vorträge, Seminare und Symposien versuchen wir, die angehenden Mu­siker/innen davon zu überzeugen, dass es (auch) an ­ihnen liegt, sich selbstfürsorglich zu verhalten. Der Wunsch nach einer solchen Gesundheitsvorsorge kommt nicht nur von Seiten der medizinischen Berufe, sondern auch von Studierenden, Orchester­musi­ker(inn)en, Instrumental- und Gesangspädagog(inn)en und deren Berufsverbänden: Viele Musiker/innen fühlen sich im Studium nicht ausreichend auf die Belastungen im späteren beruflichen Alltag vorbereitet. Auch im Orchester fehlt es häufig an engagierter Betreuung durch Betriebsmediziner/innen oder Physio­therapeut(inn)en, welche den Musiker(inne)n allgemeine und spezifische Gesundheitsförderungs- und Präventionsmassnahmen vermitteln und sie im Umgang mit gesundheitlichen Problemen schulen. 
Die Musikermedizin wird auch in Zukunft wichtig bleiben und im wissenschaftlichen Betrieb an Bedeutung gewinnen. In einem zunehmend kompetitiven Umfeld einer globalisierten Gesellschaft, in der Konkurrenz und Selektion im Mittelpunkt stehen, ist es unumgänglich, Unterstützung für die Menschen anzubieten, die uns das Schöne, die Freude und die Kontemplation schenken und kulturelle Wurzeln bewahren können.

16. Symposium der SMM

Beim diesjährigen 16. Symposium der SMM, das in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Interpretenstiftung SIS organisiert wird, haben Sie Gelegenheit, unsere Arbeit kennenzulernen. Die Thematik «Warn­signal Schmerz» steht am 27. Oktober 2018 in Luzern im Vordergrund. Weitere Informationen und Anmeldung unter: https://www.musik-medizin.ch/aktuelles-symposium/ (5 Credits SGARM / Schweizerische Gesellschaft für Arbeitsmedizin)
Martina Berchtold-Neumann
Präsidentin SMM
Brodlaubegass 2
CH-8260 Stein am Rhein
praesidium[at]musik-medizin.ch