Neue Screening-Methode im Rahmen der Wirtschaftlichkeitskontrolle

FMH
Ausgabe
2018/41
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.17209
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(41):1390-1391

Affiliations
a FMH, Experte, Abteilung Ambulante Versorgung und Tarife; b Dr., santésuisse, Leiter Wirtschaftlichkeitsprüfungen; c curafutura, Leiterin Tarife

Publiziert am 10.10.2018

Die neue statistische Screening-Methode soll Leistungserbringer mit statistisch auffällig hohen Kosten spezifischer identifizieren: Die neue statistische Screening-Methode schafft hierfür die Voraussetzungen, denn sie berücksichtigt im Vergleich zur bis­herigen Varianzanalyse zusätzliche Morbiditätsvaria­blen. Versicherer und Leistungserbringer sind gemäss Art. 56 Abs. 6 KVG verpflichtet, gemeinsam eine Methode zur Kontrolle der Wirtschaftlichkeit von Leistungserbringern zu vereinbaren. Anfang 2017 haben sich die Vertragspartner – santésuisse, curafutura und FMH – auf die statistische Methode der Varianzanalyse1 (Regres­sionsanalyse) als Grundlage für die statistische Screening-Methode im Rahmen der Wirtschaftlichkeits­kontrolle geeinigt, um damit Ärzte zu detektieren, die im Vergleich zu ihrem Vergleichskollektiv Kosten aufweisen, die über dem Toleranzbereich liegen. Dies bedeutet aber noch nicht, dass die statistisch auffälligen Ärzte unwirtschaftlich arbeiten. Diese Ärzte müssen nach wie vor im Rahmen einer um­fassenden Einzelfallbeurteilung bezüglich der Wirtschaftlichkeit ihrer ärztlichen Leistungserbringung eingehend überprüft werden. Erst dann kann entschieden werden, ob ein Arzt wirtschaftlich arbeitet. Die neue Methode betrifft lediglich das Screening, d.h. die Detektion von statistisch auffälligen Ärzten.

Regressionsanalyse schärft das Bild

Die Vertragspartner einigten sich darauf, neben den bestehenden Kriterien Alter und Geschlecht der Pa­tienten sowie Standortkanton des Arztes zusätzliche Faktoren zu berücksichtigen, welche insbesondere die Morbidität der Patienten weitergehend abbilden, da ­gerade der Morbiditätsgrad des Patientenkollektivs nebst anderen Kriterien einen Einfluss auf die Kostenstruktur eines Arztes haben kann (Diabetes, Bluthochdruck, Nierenleiden, Krebs, HIV etc.). Dies mit dem Ziel, die Spezifität der statistischen Screening-Methode im Rahmen der Wirtschaftlichkeitskontrolle zu erhöhen und damit korrekt abrechnende Ärzte nicht ungerecht­fertigterweise als unwirtschaftlich arbeitend zu identifizieren, respektive nicht korrekt abrechnende Ärzte mit einem massiv unterdurchschnittlich morbiden ­Patientenkollektiv ungerechtfertigterweise als wirtschaftlich arbeitend zu identifizieren. Dieser Projekt­schritt ist nun abgeschlossen. Eine Expertengruppe, bestehend aus Vertretern der beiden Krankenversichererverbände santésuisse und curafutura, des Ärzteverbandes FMH sowie einem externen Statistik-Experten, hat gemeinsam eine statistische Screening-Methode im Rahmen der Wirtschaftlichkeitskontrolle zur Ermittlung von Ärzten mit statistisch auffällig ­hohen Kosten entwickelt und von der Polynomics AG – als externe Validierungsstelle – beurteilen lassen. Vertraglich vereinbart wurde eine zweistufige Regressionsanalyse2, die ab dem Statistikjahr 2017 zur Anwendung kommen wird.

Faktor 1: Morbidität Patientenstamm

In der ersten Stufe wird ein sogenanntes «Fixed-­Effects-Modell» geschätzt, das die Ermittlung eines Praxiseffekts erlaubt, bereinigt um die Morbidität des Patientenstamms. Konkret zeigt dieser Effekt, inwiefern eine Arztpraxis von den durchschnittlichen Kosten in der gleichen Facharztgruppe mit gleichem Pa­tientenkollektiv abweicht. Mit den hier beschriebenen Variablen wird versucht, den durch Praxis­besonderheiten (z.B. Zusammensetzung und Krankheitsgrad der Pa­tienten eines Arztes) erklärbaren Anteil der Kosten zu berücksichtigen. Die Annahme für das Screening ist, dass die verbleibende Kosten­abweichung dahingehend erklärungsbedürftig («auffällig») ist, dass sie nicht durch die verwendeten ­Va­riablen erklärt werden kann. Es ist die Aufgabe der nachgelagerten Einzelfallprüfung, zwischen berechtigten Kosten (z.B. medizinisch indizierte The­rapiewahl) und unwirtschaftlichem Verhalten zu ­unter­scheiden. Berücksichtigt werden die folgenden Morbiditätskriterien:
Alter und Geschlecht der Erkrankten: Dieser Faktor variiert stark nach medizinischer Fachdisziplin. So ist die Kostenkurve bei den «Grundversorgern» nach Altersgruppen steigend; das zunehmende Alter einer Patientin, eines Patienten geht üblicherweise mit höheren Kosten einher. In den Fachdiszi­plinen Psychiatrie und Psychotherapie wie auch in der Chirurgie hingegen ist diese Kostenkurve relativ flach: Das Patientenalter beeinflusst die Kosten nur geringfügig.
Wahlfranchise: Die Versicherten können zwischen sechs Franchisestufen wählen. Für die Regressionsanalyse wurden diese Franchisestufen in zwei Gruppen zusammengefasst: Als niedrig gelten die ordent­liche Franchise sowie die erste Wahlfranchise (bei Erwachsenen 300 und 500 Franken), als hoch alle übrigen Franchisestufen. Die Wahlfranchise eignet sich deshalb als Morbiditätskriterium, weil Patienten mit einer tieferen Franchise, unabhängig vom Alter, statistisch signifikant höhere Kosten generieren.
Aufenthalt in einem Spital oder Pflegeheim im Vorjahr: Ein Indikator, der einen Spital- oder Pflegeheimaufenthalt des Patienten von mindestens drei aufeinanderfolgenden Nächten widerspiegelt. Ein Morbiditätskriterium, das auch im Risikoausgleich verwendet wird und das sich nachweislich auf die Gesundheitskosten auswirkt.
Pharmazeutische Kostengruppen: Mit den pharmazeutischen Kostengruppen (Pharmaceutical Cost Groups, PCG) wird die Häufigkeit bestimmter chronischer Krankheiten in einem Patientenkollektiv indirekt über Indikatoren abgebildet, die auf ­Medikamentenabrechnungen beruhen. Das gleiche Klassifikationssystem wird für den Risikoausgleich verwendet. 
Die Liste des Bundesamtes für Gesundheit BAG enthält aktuell 24 PCGs. Bei der neuen Screening-Methode im Rahmen der Wirtschaftlichkeitskontrolle wird eine PCG nur dann berücksichtigt, wenn innerhalb einer Facharztgruppe bei über dreissig Ärzten eine Mindestmenge an PCG-relevanten Medikamenten verschrieben wurde. Es braucht genügend Beobachtungen, um den Einfluss zuverlässig schätzen zu können. Die PCG-Indikatoren haben nachweislich einen positiven Einfluss auf die Kosten.

Faktor 2: Praxisstandort

In einem «Fixed-Effects-Modell», wie für die erste Stufe der Regressionsanalyse angewendet, können keine Faktoren berücksichtigt werden, die pro Arzt konstant sind und damit innerhalb des Patientenkollektivs nicht variieren. Für die Korrektur des Faktors «Praxis­standort» – er widerspiegelt die soziodemographischen Gegebenheiten des jeweiligen Kantons – war eine zweite Teststufe notwendig. In die Analyse eingeflossen sind dabei Sozialhilfequoten, Einwohnerdichte sowie der Anteil an Ausländerinnen und Ausländern. Weil diese Informationen lediglich pro Praxisgemeinde zur Verfügung stehen und nicht pro Arztpraxis, haben sie keine statistisch signifikanten Effekte auf die Kosten.

Indexierte Kostenauffälligkeit

Aus dem bereinigten Praxiseffekt wird in der Regres­sionsanalyse schliesslich ein Index berechnet. Er zeigt an, um wie viele Prozentpunkte die Kosten einer Arztpraxis über dem erwarteten Wert liegen. Ärzte, die den mittleren Indexwert von 100 deutlich überschreiten, gelten als statistisch auffällig und werden einer eingehenderen Einzelprüfung mittels Analyse der Tarif- und Medikamentenanwendung unterzogen. Bevor santésuisse jedoch eine Massnahme einleitet, erfolgt in jedem Fall eine individuelle Prüfung des Arztes, deren Resultate dem betroffenen Arzt kommuniziert werden.

Unsicherheitsindikator berücksichtigt

Schliesslich wird im Modell der Regressionsanalyse ein Unsicherheitsindikator berechnet. Dieser bildet die Streuung in den Kostendaten ab und kann folgendermassen interpretiert werden: Weicht ein Arzt bei all seinen Patientengruppen in ähnlichem Umfang von den durch das Modell vorhergesagten Kosten ab, ist der Unsicherheitsindikator gering. Weichen hingegen beispielsweise die Kosten einiger Patientengruppen sehr stark positiv ab, andere jedoch kaum oder stark negativ, ist der Unsicherheitsindikator gross. Der Unsicherheitsindikator berücksichtigt also den Umstand, dass die Kosten eines Arztes zwischen den Patientengruppen deutlich streuen können. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn einzelne Patienten im Kollektiv sehr hohe Kosten verursachen. In kleinen Arztpraxen mit einer geringen Anzahl Patienten können solche Fälle die Durchschnittskosten beeinflussen. Der Un­sicherheitsindikator liefert im Rahmen der Analyse wertvolle Hinweise, wie robust die Ergebnisse sind.

Weniger Ärzte auf dem Radar

Die zweistufige Regressionsanalyse wird im systematischen Testverfahren der Statistikdaten 2017 erstmals zur Anwendung kommen. Durch Einbezug der zusätzlichen Morbiditätsindikatoren sowie der Faktoren Wahlfranchise, Spitalaufenthalt im Vorjahr und PCGs erhöht sich die Aussagekraft des Modells und dadurch die Güte des Verfahrens hinsichtlich der Überprüfung der Wirtschaftlichkeit der Arztpraxen. Polynomics AG geht davon aus, dass sich die Anzahl der statistisch auffälligen Arztpraxen durch das neue Verfahren massgeblich reduzieren wird.
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