Was hat sich nach den neuen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften geändert?

"Doktor, ich will sterben...."

Zu guter Letzt
Ausgabe
2018/42
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.17245
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(42):1476

Affiliations
Institut für Bioethik (iEH2), Medizinische Fakultät, Genf

Publiziert am 17.10.2018

Im Frühling dieses Jahres wurde heftig über die neuen medizinisch-ethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften «Umgang mit Sterben und Tod» diskutiert. Es ist nur natürlich, dass Fragen des Lebensendes und insbesondere des assistierten Suizids für uns von grosser Bedeutung sind. In der Hitze des Gefechts besteht jedoch die Gefahr, das Gesamtbild aus den Augen zu verlieren. So ist die Zeit für eine Kaffeepause wieder gekommen. Lassen Sie mich einige Änderungen zusammenfassen und auch darauf hinweisen, was gleich geblieben ist.
Die erste Änderung besteht darin, dass sich diese Version der Leitlinien nicht mehr nur auf das Management der Endphase einer Krankheit konzentriert. Es geht allgemeiner um die Konfrontation mit der Frage nach dem Ende des Lebens und mit dem Tod, einschliesslich der Fälle, in denen der Patient den Tod fordert.
Zweiter wesentlicher Punkt: Ein spezifischer Abschnitt beschäftigt sich mit der Haltung gegenüber dem Wunsch zu sterben (Punkt 4). Unter den Möglich­keiten, Leiden zu bekämpfen, wird hier eine neue ­Anforderung gestellt, den Blick auch über die Medizin hinaus zu öffnen, um «persönliche und soziale Ressourcen» im Umfeld des Patienten zu unterstützen. Diese Anforderung, die weiter gefasst ist als bisher, soll Menschen besser schützen, deren Sterbewunsch einer Situation sozialer Vulnerabilität entspringt.
Die nächsten Änderungen findet man in den Kriterien für die ärztliche Beteiligung an assistiertem Suizid. Die vom Rechtsrahmen geforderte Urteilsfähigkeit muss hier nun in jedem Fall vom Arzt, in bestimmten Fällen von einem Psychiater, dokumentiert werden (Punkt 6.2.1). Leiden wird nun als Kriterium genannt und qualifiziert. Es muss vom Patienten als unerträglich angesehen werden und durch Krankheit oder funktionelle Einschränkungen verursacht werden. Eine Person, die an keiner Krankheit leidet, sich aber «lebensmüde» fühlt oder ein Teenager mit Herzschmerz würde das Kriterium also nicht erfüllen. Bei der Beurteilung dieses Leidens hat der behandelnde Arzt ausdrücklich eine privilegierte Rolle (Punkt 6.2). Ausserdem muss das Leiden – in der Tat – unheilbar sein. Schliesslich wird festgelegt, dass der Arzt wiederholte Gespräche mit dem Patienten geführt haben und zu dem Schluss gekommen sein muss, dass der Wunsch des Patienten für ihn nachvolllziehbar ist.
Die Schutzmassnahmen sind somit erheblich. Die Hauptänderung besteht natürlich darin, dass das Kriterium, nach dem der Patient am Lebensende sein muss, wegfällt. Dieses Kriterium ist auch nicht in der kantonalen Gesetzgebung über die Beihilfe zum Suizid enthalten. Es ist schliesslich das Leiden, nicht die Kürze der Restlebensdauer, das den assistierten Suizid rechtfertigt. Während der öffentlichen Konsultation war dieser Punkt Gegenstand vieler Kommentare. Die überwiegende Mehrheit dieser Kommentare sprach sich für die hier gewählte Option aus.
Ein wesentlicher Punkt, der sich nicht ändert: Es steht jeder Person völlig frei, einen Antrag auf Beihilfe zum Suizid abzulehnen. Keine Begründung ist nötig, denn das Recht auf Beihilfe zum Suizid ist ein sogenanntes «Freiheitsrecht»: Es kann nicht eingefordert werden. Könnte es schwieriger werden, ohne das «objektive» End-of-Life-Kriterium nein zu sagen? Selbst angesichts eines Patienten, der alle anderen Kriterien erfüllt und dessen Herangehensweise wir verstehen, werden wir immer die Ehrlichkeit haben können, ihm zu sagen, dass wir aus Gründen der persönlichen Überzeugung uns weigern, dass der assistierte Suizid nicht Teil unseres Bildes der Medizin ist, oder dass wir nicht akzeptieren wollen, dass ein solches Ereignis Teil unserer gemeinsamen Geschichte wird. Dieses Recht ist sehr klar, und die Ausübung dieses Rechts stellt keine Gefahr für unse­re Kollegen dar.
samia.hurst[at]saez.ch