Angebot und Nachfrage von digitalen Gesundheitsangeboten (Teil I)

FMH
Ausgabe
2018/42
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.17247
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(42):1428-1431

Affiliations
a Dr. rer. biol. hum., Leiter Digitalisierung/eHealth, FMH; b Wissenschaftlicher Mitarbeiter Digitalisierung/eHealth, FMH; c Dipl.-Psych.,
selbständiger wissenschaftlicher Berater Statistik und Datenmanagement

Publiziert am 17.10.2018

Die Verfügbarkeit und schnelle Verbreitung von digitalen Gesundheitsangeboten werden als ein Treiber der Digitalisierung im Gesundheitswesen erkannt (Meister, Becker, Leppert, Drop 2017). 325 000 Gesundheits-Apps waren im Jahr 2017 verfügbar, und 78 000 neue Anwendungen aus diesem Bereich wurden in den App Stores von Google und Apple angeboten (Research2Guidance 2017). In der Schweiz geben 44% der Bevölkerung an, Apps für Fitness und Be­wegung zu verwenden (Golder & Jans 2018). Digitale Gesundheitsangebote wie Mobile Health bieten eine orts- und zeitunab­hängige Kommunikation, Diagnostik und Behandlung zwischen Patienten und ­Ärzten. Neben dem Anwendungsfeld Fitness oder Lifestyle entstehen im medizinisch-professionellen Umfeld Anwendungen zur ­therapiebegleitenden Unterstützung der Verhaltensänderung der Patienten und zur Verbesserung der Therapie-Compliance (Rathbone & Prescott 2017).
FMH und KPMG untersuchten in einer gemeinsamen Studie die Haltung der Schweizer Ärzteschaft in Bezug auf die Digitalisierung und das Angebot von digitalen Gesundheitsangeboten. Ziel war herauszufinden, wie die Ärztinnen und Ärzte die Nachfrage und das Angebot von digitalen Gesundheitsangeboten beurteilen, in welchen Bereichen Nutzen erkannt wird, welche Bedenken bestehen und welche Auswirkungen auf die Ärzteschaft erwartet werden (Giger & Nörenberg 2018).
Im Zeitraum von Mai bis Juni 2018 wurde eine Online-Befragung der Schweizer Ärzteschaft durchgeführt. Insgesamt wurden 32 800 Fragebögen an die Mitglieder der FMH versendet und abschliessend analysiert.1 Insgesamt haben 4570 Ärztinnen und Ärzte den Fragebogen beantwortet (14% Rücklaufquote). Bei der Befragung wurde die Möglichkeit für offene Antworten vorgesehen, wobei dies von 55% der Be­fragten in Anspruch genommen wurde (9886 freie Antworten).
Die FMH bedankt sich an dieser Stelle herzlichst für die Teilnahme an der Studie sowie für die gute und ausführliche Beantwortung der Fragen.2

Einstellung zu digitalen Gesundheits­angeboten

Auf die Frage nach der prinzipiellen Einstellung in Bezug auf die Steigerung der Behandlungsqualität und Kosteneinsparungen geben 57% der Ärzteschaft an, eher positiv oder sehr positiv zu sein. Bezogen auf das Alter der Befragten sind 72% der unter 40-Jährigen positiv gegenüber dem Thema Digitalisierung eingestellt, wohingegen nur 47% der über 55-Jährigen diese positive Haltung teilen (Abb. 1). Innerhalb der Fachgruppen sind 69% der Spitalärztinnen und -ärzte positiv ein­gestellt, während bei den Spezialistinnen (52%), Psych­iater3 (45%) und Grundversorger (49%) etwa die Hälfte der Befragten positiv eingestellt ist (Spitalärztinnen -ärzte unterscheiden sich signifikant von den anderen Gruppen). Bei den ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzten sind 13% aus Einzelpraxen sehr skeptisch ein­gestellt, während nur 8% der Ärztinnen und Ärzte, die in Gruppenpraxen tätig sind, diese starke Skepsis ­teilen.
Abbildung 1: Einstellung gegenüber digitalen Gesundheitsangeboten
mit ­Unterscheidung nach Altersgruppen (NA = keine ­Antwort).

Nachfrage und Angebot von digitalen Gesundheitsangeboten

Auf die Frage, ob die Ärzte durch ihre Patienten bereits aktiv auf digitale Angebote angesprochen wurden, antworten 81%, dass sie noch nie oder selten angesprochen wurden. Dabei gibt es keine signifikanten Unterschiede zwischen den jeweiligen Altersgruppen. 89% der Psychiaterinnen und Psychiater werden nie oder selten angesprochen, wohingegen 77% der Grundversorger und 82% der Spitalärztinnen und -ärzte nie oder selten angesprochen wurden. Zudem geben Ärztinnen und Ärzte aus Einzelpraxen im Vergleich zu den Befragten aus Gruppenpraxen häufiger an, dass sie nicht durch ihre Patienten auf digitale Angebote angesprochen wurden.
Auch ohne Nachfrage des Patienten empfehlen 29% der Befragten aus Gruppenpraxen und 24% aus Einzelpraxen digitale Gesundheitsangebote gelegentlich oder oft. Die Befragten der Gruppenpraxen unterscheiden sich bei einer «gelegentlichen» Empfehlung zu den Einzelpraxen signifikant.
Die meistgenannten digitalen Gesundheitsangebote, welche die Ärzteschaft besonders überzeugt, sind die evidenzbasierte Ressource «uptodate.com», «Kompendium», «AGLA Risikorechner» sowie «meineimpfungen.ch» und «safetravel.ch». Besonders überzeugen ­digitale Anwendungen, welche einfach in der Hand­habung sind, prozessunterstützend wirken, verläss­liche Informationen anbieten, unterstützend bei der Diagnosestellung und Behandlung sind oder die zeit­liche und örtliche Flexibilität erhöhen.

Nutzen von digitalen Gesundheits­angeboten

Der Nutzen und das Potential von digitalen Gesundheitsanwendungen wird durch die Ärzteschaft sehr ähnlich bewertet. Deshalb werden die Ergebnisse ausschliesslich bezüglich des empfundenen Nutzens beschrieben.
Im Altersvergleich zeigt sich, dass die unter 40-Jährigen den Nutzen für die administrative Unterstützung häufiger positiv (77%) als die über 55-Jährigen (59%) bewerten. Die unter 40-Jährigen beurteilen im Vergleich zu den über 55-Jährigen den Nutzen von Angeboten zur Verhaltensänderung (Ernährung, Bewegung oder Tabak; 75 vs. 55%) sowie den Nutzen von Patienteninformation (74 vs. 59%) häufiger positiv. Weiter zeigt die Analyse der unterschiedlichen Fachgruppen, dass der Nutzen für Anwendungen im administrativen Bereich, wie eine elektronische Terminvergabe, von Angeboten zur Verhaltensänderung sowie von Patienteninformationen, durch Spitalärzten häufiger als sehr positiv bewertet wird, während die anderen Fachgruppen eine grössere Skepsis zeigen (vgl. Abb. 2).
Abbildung 2: Einschätzung des Nutzens von digitalen Gesundheitsangeboten (NA = keine Antwort).
Gegenüber dem Nutzen von Telekonsultationen besteht relativ (p = 0,003) unabhängig vom Alter der Befragten eine starke Skepsis. Innerhalb der verschiedenen Fachgruppen sind jedoch die Spitalärzte (39%) sowie die Psychiater (35%) häufiger positiv eingestellt als die Spezialisten (29%) und die Grundversorger (23%).

Bedenken, Hürden

Neben Angebot, Nachfrage und Nutzen wurden die Teilnehmer nach den Bedenken gegenüber digitalen Gesundheitsangeboten sowie den möglichen Hürden betreffend die Anwendung im Alltag befragt. 67% der über 55-Jährigen geben an, keine Bedenken gegenüber dem Datenschutz zu haben, während bei den unter 40-Jährigen nur 56% diese Meinung teilen. 7% der über 55-Jährigen befürchten, dass der Arbeitsaufwand zunehmen wird, während nur 3% der unter 40-Jährigen diese Befürchtung teilen. Bezüglich der Bedenken, dass Patientinnen und Patienten den Arzt zu wenig bzw. zu viel aufsuchen könnten, sind die 40–55-Jährigen skeptischer (45%) als die unter 40-Jährigen (37%). Weiter sehen über 40% der über 40-Jährigen und nur 22% der unter 40-Jährigen die Gefahr, dass die Angebote mehrheitlich keine validen Informationen bieten.
Unter den Fachgruppen befürchten Grundversorger und Spezialisten am häufigsten, dass die Informationen nicht valide sind. Weiter sind die Grundversorger im Vergleich zu den anderen Fachrichtungen am häufigsten (33%) besorgt, dass sich die Patienten durch ­digitale Anwendungen Pseudowissen aneignen. Die Psychiaterinnen und Psychiater sorgen sich ihrerseits häufiger (52%) als die anderen Fachrichtungen (40–43%), dass der Patient durch digitale Angebote den Arzt zu selten oder zu häufig aufsucht4 (vgl. Abb. 3).
Abbildung 3: Bedenken zu digitalen Gesundheitsangeboten mit Unterscheidung nach Fachgruppen (NA = keine Antwort).
Als Hürden zur Anwendung von digitalen Gesundheitsangeboten werden von den über 55-Jährigen gegenüber den unter 40-Jährigen häufiger der fehlende Nutzennachweis und die Interoperabilität der eigenen Systeme sowie fehlende technische Möglichkeiten angesehen. Die ambulant tätige Ärzteschaft gibt häufiger die fehlende Interoperabilität sowie die ungenügende Vergütungssituation an, während die Befragten aus dem stationären Bereich häufiger politische Rahmenbedingungen und Zeitmangel als Hindernis wahrnehmen (vgl. Abb. 4).
Abbildung 4: Hürden zur Anwendung von digitalen Gesundheitsangeboten mit Unterscheidung nach Altersgruppen
(NA = keine Antwort).

Diskussion und Ausblick

Die Ärzteschaft ist grundsätzlich positiv gegenüber digitalen Gesundheitsangeboten eigestellt. Zwar sieht sie mehrheitlich ein grosses Potential, jedoch führen fehlende Anreize sowie fehlende Standards für die inte­grative Datennutzung eher dazu, digitale Angebote in der Praxis nicht zu integrieren. Die Studie hat uns zwei überraschende Ergebnisse geliefert. Erstens: Patienten sind zurückhaltend in der Nachfrage, und zweitens: die Telekonsultation wird signifikant schlecht bewertet. Eine Studie in England begründet Letzteres mit un­genügenden finanziellen Anreizen, zusätzlicher Zeit (nicht am Patienten) und der Befürchtung, den physischen Kontakt zum Patienten zu verlieren (Kayyali et al. 2017). Auch die zurückhaltende Nachfrage deckt sich mit einer grossen amerikanischen Studie über die Nutzung von Mobiltelefonen. Zwar nutzen die Befragten Apps zur Verhaltensänderung und Therapieunterstützung, jedoch weniger als 10% nutzen Apps zur Kommunikation mit ihrem Hausarzt (Krebs & Duncan 2015).
Eine Limitation dieser Studie ist, dass die Gruppe der Spitalärzte deutlich jünger als die der ambulant tätigen ist, weswegen einige der Ergebnisse stark miteinander zusammenhängen. Weiterhin bilden die dargestellten Ergebnisse Durchschnittswerte ab, welche der facetten­reichen Realität nicht ganz entsprechen können.
So zum Beispiel bei der Einstellung zu digitalen Gesundheitsangeboten mit 57% (positiv oder eher positiv), was einer Skepsis von 43% der Befragten entspricht. In einem zweiten Schritt wurde daher eine Cluster-­Analyse durchgeführt, welche Gruppen von Ärztinnen und Ärzten beschreibt und einen tiefer­gehenden Einblick in das Verständnis der Ärzteschaft gewährt. Die Ergebnisse werden im zweiten Teil des ­Artikels publiziert.
Dr. Reinhold Sojer
Leiter Abteilung ­Digitalisierung/eHealth FMH 
Elfenstrasse 18 
Postfach 300
CH-3000 Bern 15
Tel. 031 359 12 04
reinhold.sojer[at]fmh.ch
– Giger MA, Nörenberg N. Digitalisierung im Schweizer ­Gesundheitswesen: Das neue Rollenverständnis der Schweizer Ärztinnen und Ärzte. Clarity on Healthcare. 2018(September);14–21. Retrieved from https://assets.kpmg.com/content/dam/kpmg/ch/pdf/clarity-on-healthcare-2017-de.pdf.
– Golder L, Jans C. Swiss eHealth Barometer. 2018.
– Kayyali R, Hesso I, Mahdi A, Hamzat O, Adu A, Nabhani Gebara S. Telehealth: misconceptions and experiences of healthcare professionals in England. International Journal of Pharmacy Practice. 2017.
– Krebs P, Duncan DT. Health App Use Among US Mobile Phone Owner­s: A National Survey. JMIR MHealth and UHealth. 2015.
– Meister S, Becker S, Leppert F, Drop L. Digital Health, Mobile Health und Co. – Wertschöpfung durch Digitalisierung und Datenver­arbeitung. In: Digitale Transformation von Dienstleistungen im Gesundheitswesen I. Springer; 2017, pp. 185–212.
– Rathbone AL & Prescott J. The use of mobile apps and SMS messag­ing as physical and mental health interventions: ­Systematic review. Journal of Medical Internet Research. 2017.
– Research2Guidance. mHealth App Economics 2017: Current Status and Future Trends in Mobile Health. research2guidance. Berlin (Germany); 2017.