Weltweite und schweizerische Kritik an der Tabakpolitik unseres Landes

Tribüne
Ausgabe
2018/48
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.17267
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(48):1713-1714

Affiliations
Dr., Facharzt für Innere Medizin und Pneumologie, Mitglied der FMH

Publiziert am 28.11.2018

Anfang Oktober tagte in Genf die Folgekonferenz der WHO-Tabakkonvention. NGOs der ganzen Welt kritisieren die Schweiz in einem Brief an den Bundespräsidenten, da sie seit 2004 die FCTC nicht ratifizieren will.
Der freisinnige Gesundheitsminister Pascal Couchepin bekundete 2004 mit der Unterzeichnung der WHO- Rahmenkonvention zur Tabakkontrolle (Framework convention Tobacco Control, FCTC) den Willen der Schweiz, die weltweite Tabakepidemie durch Zusammenarbeit der Länder zu bekämpfen und der Tabak­industrie Schranken zu setzen. Als Vertragswerk von der Generalversammlung der WHO einstimmig (auch von der Schweiz) angenommen, drückt die FCTC die Solidarität der Länder aus, die Angriffe dieser Industrie auf die öffentliche Gesundheit, auf Menschenrechte und auf die dauerhafte Entwicklung zu bekämpfen.

Zusammenfassung

In Genf tagte vor kurzem COP 2018 der WHO-Rahmenkonvention zur Tabakkontrolle, an der die Schweiz nicht teilnimmt, da unser Parlament die Konvention seit 2004 nicht ratifizieren will. Mehr als hundert NGOs aus der ganzen Welt fordern Bundespräsident Alain Berset auf, die Ratifizierung der Konvention voranzutreiben, denn das Abseitsstehen der Schweiz macht unser Land zur zentralen welt­weiten Plattform der Tabakindustrie und schadet ­unserem Ruf als Vorbild für Menschenrechte: Der vorliegende zweite Entwurf des Tabakproduktegesetzes, der gemäss den Berechnungen des BAG in den kommenden Jahrzehnten die Zahl der Raucher nicht senken wird, schützt die Industrie statt die Gesundheit. Er ­bestätigt, dass sich ­unser Staat seit Jahren zum Komplizen der Tabakindustrie macht, die mit der öffentlichen ­Ge­-
sundheit unseres Landes und weltweit in einem grundsätzlichen Interessenkonflikt steht. Viele schweize­rische NGOs haben den Brief unterzeichnet, es fehlen aber unverständlicherweise die Lungen­liga Schweiz, Public Health Schweiz, die FMH und der Fachverband Sucht.
Vierzehn Jahre danach, anlässlich der COP 2018 (Conference of Parties der FCTC), heben die Initianten des Briefes Action on Smoking and Health USA und Oxy­Suisse (https://ash.org/swiss-pawn) hervor, dass der vorliegende zweite Entwurf zum Tabakproduktegesetz (TabPG2) die Ratifizierung der FCTC für die kommenden Jahrzehnte ausschliesst. Denn gemäss Bundesamt für Gesundheit wird dieses Gesetz die Raucherquoten um ganze 0,5% senken ... im Jahre 2060! Dies bedeutet, dass auch die derzeitigen 9500 jährlichen Tabaktodesfälle und die 300 000 Tabakkranken für die nächsten Jahrzehnte wissentlich vom Bundesrat in Kauf genommen werden, obwohl die Massnahmen ­bekannt sind, die dies verhindern könnten. Bewusst nehmen die poli­tischen Behörden damit auch auf sich, die grund­legenden Menschenrechte auf Gesundheit der Bewohner dieses und anderer Länder zu verletzen, indem sie sich ihre Politik durch die von der Tabak­industrie ferngesteuerten wirtschaftlichen Kreise diktieren lassen.
Vor dem Nationalrat hatte Gesundheitsminister Alain Berset erklärt, der (erste) Entwurf des TabPG suche «ein Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Gesundheit und den wirtschaftlichen Interessen der Tabak­industrie». Dazu interpellieren die NGOs den Bundespräsidenten: «Sie müssten wissen, dass dies nicht möglich ist!» Tatsächlich hatte am 16. September 2011 die Schweiz einer Deklaration der UNO-Generalversammlung zur Prävention der nicht kommunizier­baren (NCD-)Krankheiten zugestimmt, die den fundamentalen Interessenkonflikt zwischen Tabakindustrie und öffentlicher Gesundheit festhält. «Die Entwürfe zum Tabakproduktegesetz veranschaulichen die Unvereinbarkeit, (und) Ihr letzter Entwurf schützt nur die Interessen dieser Industrie, zum Schaden des Schweizervolkes.» Die NGOs sagen es ohne Umschweife: Die Art, mit der die Schweiz die Industrie fördert, ist in jeder Beziehung selbstzerstörerisch: Selbst von einem rein wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, hat die Tabakindustrie negative Nettowirkungen auf die Volkswirtschaft. Unweigerlich wird die Schweiz «alles verlieren, wenn sie weiterhin dieser Industrie politische Macht und andere Vorrechte zugesteht und ihr die Gesundheit und Menschenrechte der eigenen Bevölkerung opfert. Dies hat schon weltweit das Ansehen des Landes als Vorbild für Humanitäre Aktion und Verteidigung der Menschenrechte beschädigt.»
Die Pressekonferenz vom 3. Oktober 2018beleuchtete, was Parlamentarier und Medien nicht wahrhaben wolle­n. Der Präsident von OxySuisse Pascal Diethelm hielt fest, dass die offiziellen Raucherquoten von 25% die Wirklichkeit unterschätzen. Aufgrund des in der Schweiz verzollten Tabaks muss man davon ausgehen, dass hierzulande circa ein Drittel der Bevölkerung raucht. Keine der Massnahmen der FCTC sind umgesetzt worden: Die Zigarettenpreise sind, gemessen am mittleren Einkommen, tief, die Passivrauchregelung des Bundes ist fragmentarisch, die Werbeeinschränkungen (auch im vorgesehenen neuen Gesetz) illusorisch, und die Warnhinweise auf den Packungen hinken einige Runden hinter denen anderer Länder und Australiens her, das seit der neutralen Zigaretten­packung ein Sinken der Raucherquote der Jungen von 0,5% verzeichnet, derweil bei uns die Jungen mehr rau­chen. Bedeutsam die Intervention eines Ver­antwort­lichen aus Afrika, Inoussa Saona aus Nigeria: nikotinreiche Marlboro-Zigaretten werden aus dem Höchstlohnland Schweiz in afrikanische Länder exportiert und da zu einem Preis verkauft, der in keinem Verhältnis zu den Produktions- und Transportkosten steht. Dadurch steigen die Raucherquoten parallel zur Nikotinabhängigkeit in einem Kontinent, wo vor 10 Jahren Tabak kein Problem war, wo er aber heute die Misere der Menschen noch verschlimmert. Die Nationalrätin Laurence Fehlmann ­Rielle (PS/GE) schätzt, dass dieses Parlament die Dringlichkeit eines wirksamen Tabakproduktesetzes ignoriert und die Reaktion der zivilen Gesellschaft ­nötig sein wird, wie die aktuelle Initiative der Kinder- und Familenärzte, oder aber ein Referendum, um ein Umdenken der «Volksvertreter» zu bewirken.
Mehr als hundert NGOs haben den Brief unterschrieben, knapp ein Viertel davon aus der Schweiz. Prof. Bettina Borisch von der World Federation of Public Health Associations, Genf, fordert, dass diese mehr Willen zeigen sollten, «... more will to do advocacy», sich im politischen Prozess für die Vorgaben der FCTC einzusetzen: In einem Land, das zur zentralen Plattform des weltweiten Handels von Tabakprodukten wurde, sollte für die Professionellen gelten: «Health is politics; we have the data, we have the tools for anti-tobacco strategies»; Tabak wird jedoch hier nicht offen als Politikum angesprochen … aber weiterhin in die Entwicklungs­länder exportiert.
Tatsächlich vermisst man unter den in der Schweiz beheimateten unterschreibenden Organisationen einige Schwergewichte. Was hindert wohl die schweizerische Lungenliga, Public Health Schweiz, den Fachverband Sucht und die FMH daran, sich diesem Aufruf an den Bundespräsidenten anzuschliessen? – Mitgetragen wird er von der Arbeitsgemeinschaft Tabakprävention, der Krebsliga, mehreren kantonalen Lungenligen, den Kinderärzten, den Fachärzten der Prävention und der öffentlichen Gesundheit, Sucht Schweiz und vielen anderen.
Dr. Rainer M. Kaelin
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