Ikarien

Horizonte
Ausgabe
2018/48
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.17317
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(48):1719

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 28.11.2018

Uwe Timm
Ikarien
Köln: Kiepenheuer & Witsch; 2017.
512 Seiten. 36.90 CHF.
ISBN 978-3462050486.
Voyage en Icarie nannte Etienne Cabet 1840 seinen utopischen Roman einer idealen Musterstadt mit Gütergemeinschaft. Eine Massenbewegung entstand, aus der wenige Jahre später die erste Siedlergruppe den Mormonen Land abkaufte. Vor diesem Hintergrund erzählt der deutsche Schrift­steller Uwe Timm die Geschichte von Alfred Ploetz, der sich von einem überzeugten Frühsozialisten zu einem einflussreichen Eugeniker ­wandelte. Die spätere Leitfigur der deutschen Rassenhygiene entwarf 1895 eine Gesellschaft, die nach der Vernunft der Wissenschaft weiterentwickelt wird. Wie schon viel früher in der Vision des Dominikaners ­Tommaso Campanella (1568–1639) sollen nur ausgelesene Paare eine Lizenz zum Kinder­gebären erhalten. Schwächliche Neugeborene würden «ausgejätet», bis die Selektion von Erbanlage­trägern durch die Manipulation der Keimzellen möglich werde. Das Programm wurde zuerst in Grossbritannien mit der Gründung der Eugenics Education Society 1907 aufgenommen, die eine staatliche Regulierung der Sterilisation forderte. Der erste Lehrstuhl für Eugenik entstand 1911 in London. Professor Dr. med. Alfred Ploetz (1860–1940), um den es im Buch von Uwe Timm geht, bewegte sich auf dem international anerkannten Wissenschaftsfeld der Populationsgenetik und wurde 1936 sogar für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.
Auf mehreren Erzählebenen gelingt es dem Autor, den Werdegang eines Wissenschaftlers nachzuzeichnen, der eine Zeit lang in Zürich vor Bismarcks Gesetzen Zufluch­t fand und dort mit allen prominenten Sozialisten und Anarchisten verkehrte. Natürlich lernte er Augus­t Forel kennen, besuchte seine Klinik Burghölzli und heiratete in erster Ehe Pauline Rüdin, Ärztin und Schwester des Schweizers Ernst Rüdin, der bei Eugen Bleuler promovierte. Auch er, wie Ploetz, Mitglied der NSDAP. Ein führender Experte für Zigeuner- und Mischlingsfragen und für Menschenversuche im Auftrag der Luftwaffe.
Timm erfindet einen US-Nachrichtenoffizier Hansen, Sohn deutscher Auswanderer, der in den letzten Kriegstagen das zerstörte Land bereist. Während sein Kollege den Nürnberger Ärzteprozess vorbereitet, soll Hansen Material über Alfred Ploetz sammeln. Als Zeuge findet er dessen ehemaligen Freund, der nach seiner Haft in Dachau, in einem Antiquariat versteckt, überlebt hat. Ein dritter Erzählstrang, in dem die Leser erfahren, wie eine enge Beziehung nach der gemeinsamen Reise nach Ikarien allmählich auseinanderdriftet. Ploetz war mit hohen Erwartungen in die USA gereist und von dem, was er in der Siedlerkolonie erlebte, bitte­r enttäuscht. Eine spiessige Gartenlaube nannte er sie, ungeeignet, um den edlen neuen Menschen hervorzubringen. Für dessen Züchtung braucht es die Medizin und die Biologie. Kontrollierte Evolution durch Elimination der Minderwertigen war die Antwort auf die weit verbreitete Angst vor vererbter Degeneration und damit verbundener Schwächung der Tüchtigen und Starken, die er als Schädelvermesser in erster Linie ­unter den Germanen fand. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll. Nicht zufällig hätten alle Rassenhygieniker den Zarathustra im Bücherschrank, schreibt der Autor. Der Mensch, nach Nietzsche ein Seil zwischen Tier und Übermensch. Heute ein Projekt der genetischen Optimierung, des Genetic Enhancement Engineering oder Editing, beflügelt durch jede neue Erfindung, wie des Crispr Cas oder der Verschmelzung mit künstlicher Intelligenz. Der materialreiche, spannende und kluge Roman von Uwe Timm führt uns kenntnisreich in die Ideenwelt der biologischen Menschenzüchter, er nimmt uns mit auf eine Reise durch ein moralisch und materiell zerstörtes Land und schildert auf eine anrührende Weise die amourösen Abenteuer eines jungen Mannes auf der Suche nach seiner eigenen Zukunft. Dass dieser Alfred Ploetz der Grossvater von Timms Ehefrau Dagmar Ploetz war, bleibt eine Fussnote deutsch-familiärer Vergangenheitsbewältigung.