Kafka lässt grüssen

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2018/46
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.17340
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(46):1614-1615

Publiziert am 14.11.2018

Kafka lässt grüssen

Ich bin hier nur als Gast, diesmal für 2 Wochen. Als Vertreter für einen Studienkollegen in seiner Zürcher Unterländer Hausarztpraxis. Und eigentlich sollte ich bestens gewappnet sein gegen allerlei Arten von Absurdität. Denn meine Heimat hat eine ganze Reihe von Meistern des Tragikomischen hervorgebracht – Hašek, Kafka, Havel. Aber beim Lesen des Beitrages von Frau Kollegin Hug fühlte ich mich wie zu Hause. Ich dachte mir, das ist ja fast so wie bei uns in Tschechien ...
Aber im Ernst, ist es wirklich das Ziel, den Hausarzt als Grundlage des schweizerischen Gesundheitssystems abzuschaffen? Möglicherweise ist es nicht das Ziel, aber die verschiedenen Regelungen werden dazu über kurz oder lang führen. Dies scheint der Beitrag von Frau Hug zu suggerieren. Nun denn, falls dies wirklich die Richtung sein sollte, die angesteuert werden soll, dann kann die Schweiz bei uns Anschauungsunterricht nehmen. Am besten wir konkretisieren an einem echten Beispiel aus der Zürcher Unterländer Praxis: Es kommt Herr F. in die Praxis, 48 Jahre alt. Er war schon vor einer Woche beim Kollegen wegen Unwohlsein und Palpitationen, heute ist Nachkontrolle. Sein Zustand hat sich deutlich verschlechtert, neu sind Husten und Fieber dazu­gekommen. Seine Ehefrau ist mitgekommen und ist sehr besorgt. Ich untersuche klinisch – bronchitische Atemgeräusche und vereinzelt Rasselgeräusche rechts. Die Praxis hat ein Röntgen, die Praxis hat ein Labor. Kein Problem, innerhalb 20 Minuten haben wir die Diagnose bestätigt, Pneumonie des Mittellappens rechts, bakteriell. Der Kollege hat auch das Recht zur Selbstdispensation von Medikamenten. Der Patient geht nach ca. 45 Minuten nach Hause, um sich ins Bett zu legen und die Therapie zu beginnen. Mit gesicherter Dia­gnose, mit den notwendigen Antibiotika, Expektorantia etc. etc. Wie wird die Zukunft ohne funktionierendes Hausarztsystem aussehen? Ganz einfach, so wie bei uns in Tschechien. Also folgendermassen: Der Patient kommt zum Arzt und setzt sich in den vollen Wartesaal. Nach 1–2 Stunden kommt er an die Reihe, die Ärztin hat Verdacht auf Pneumonie. Eine Blutprobe wird abgenommen und ins zentrale Labor geschickt, die Resultate werden morgen zurück sein. Sie stellt dem Patienten ein Rezept aus und eine Verordnung für das radiologische Institut. Der Patient geht zur Apotheke und holt sich die Medikamente. Dann geht er zur Radiologie, setzt sich wieder in einen Wartesaal und, wenn er Glück hat, dann wird er nach 1–2 Stunden sein Röntgenbild haben. Am Abend erst kommt er nach Hause und legt sich ins Bett, um wieder gesund zu werden.
So ist das, wenn die Hausärzte wenig Möglichkeiten und noch weniger Geld haben. Ist das die Zukunft, die die Verantwortlichen in der Schweiz anstreben? Eines ist gewiss, die Demontage eines funktionierenden Systems ist viel einfacher und schneller als dessen Aufbau. Und was die Kosten angeht: Bei uns sind am oben beschriebenen Vorgang 4 Institutionen beteiligt, nämlich die Hausarztpraxis, das externe Labor, das Röntgeninstitut und die Apotheke. Überall wird protokolliert, registriert, abgerechnet und dokumentiert. Das MUSS viel teurer sein. Das Absurdeste an der Geschichte ist, dass es mit grosser Wahrscheinlichkeit eigentlich gar niemand so plant. Solche Entwicklungen geschehen wie beiläufig, da eine Auflage, hier eine Beschränkung, und plötzlich macht der letzte echte Hausarzt seine Praxis zu. Nun, am Ende ist dies aber eine rein politische Entscheidung – was für eine Hausarztversorgung wählt die Schweiz?