Mindestfallzahlen – Qualität oder Surrogat?

FMH
Ausgabe
2018/47
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2018.17345
Schweiz Ärzteztg. 2018;99(47):1647-1648

Affiliations
Dr. med., Präsident der FMCH

Publiziert am 21.11.2018

Ehrlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, würden Sie sich selber in einem Spital oder von Operateuren behandeln lassen, die den Eingriff nur selten durchführen? Wohl kaum. Dank Ihrem Wissensvorsprung würden Sie sich aber auch nicht dort operieren lassen, wo sich schlechte Resultate häufen, auch bei noch so gros­sen Fallzahlen.
Laut einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der deutschen Autoversicherung «DA direkt» mache die erworbene Fahrpraxis einen guten Autofahrer aus [1]. Erfolge im Spitzensport basieren auf jahrelangem Training. Grosse Musiker üben ein Leben lang mehrere Stunden täglich auf ihrem Instrument oder an der Stimmbildung.
Diese allgemeine Lebenserfahrung gilt auch in der Medizin, insbesondere in den operativen Fächern. 2002 haben Halm et al. [2] in einer Metaanalyse 272 Publikationen ausgewertet. 71% der Studien dokumentieren einen Zusammenhang zwischen höherer Fallzahl in Spitälern und besserem Outcome. In 69% der Studien zeigten sich bessere Ergebnisse bei grösserer Anzahl Eingriffe pro Operateur. Am signifikantesten sei dies beim Aorten-Aneurysma, bei Pankreas- und Ösophagus-Tumoren, was in einer kürzlich erschienenen Publikation auch für Schweizer Verhältnisse bestätigt wird [3].
Es ist daher unbestrittenermassen sinnvoll, dass die Gesundheitsdirektoren-Konferenz GDK seit 2009 Leistungsaufträge für verschiedene hochspezialisierte Behandlungen nur an Listenspitäler erteilt, die jährliche Mindestfallzahlen pro Behandlung/Eingriff erreichen.
Aber taugt die Vorschrift von Mindestzahlen pro Spital zur Qualitätssicherung? Antwort: nur bedingt.
Zwar sind entsprechende bauliche, technische, organisatorische Voraussetzungen für die Behandlung zum Beispiel von schweren Verbrennungen oder Organtransplantationen unerlässlich. Beim eigentlichen Eingriff entscheidet jedoch die Erfahrung des einzelnen Operateurs über das Ergebnis. Es ist der Qualität abträglich, wenn seltene Operationen in einem Spital auf mehrere Operateure verteilt werden. Wenn schon Mindestfallzahlen bei seltenen und hochspezialisierten Eingriffen, dann auch pro Operateur, nicht nur pro Spital.
Wie bereits 2011 für Spitäler führte der Kanton Zürich – unter dem Titel «Ergänzende Anforderungen zur Qualitätssicherung» – per 1. Januar 2018 auch für Operateurinnen und Operateure Mindestmengen ein. Neu an den beiden Verordnungen: Sie gelten nicht mehr nur für hochspezialisierte Behandlungen, sondern auch für Standard-Eingriffe [4]. Betroffen sind sechs stationäre Leistungsgruppen der Gynäkologie, Urologie und der Chirurgie des Bewegungsapparates.
Führen Mindestfallzahlen allein zu mehr Qualität? Wiederum lautet die Antwort: nur bedingt.
Tatsächlich führen in der Endoprothetik niedrige Fallzahlen zu höheren Revisionsraten, wie die Arbeit von Manley et al. [5] stellvertretend für weitere Publikationen dokumentiert. Verschiedene Studien zeigen jedoch, dass die Qualität nicht oder nicht nur mit der Fallzahl pro Spital oder Operateur, sondern vielmehr mit dem Alter der Operateure [6], der Ausbildung [7] und der Spezialisierung [8] korreliert. Dem trägt unsere Weiterbildung in den chirurgischen Disziplinen seit Jahren Rechnung. In allen operativen Fächern ist die Erfüllung des Operationskatalogs zwingender Bestandteil zum Erhalt des Facharzttitels.
Auch für die Pilotenprüfung ist eine Mindestanzahl von Flugstunden Voraussetzung. Danach ist für den Erhalt der Fluglizenz weiterhin eine minimale Anzahl von Flügen pro Jahr gefordert. Naheliegend also, minimale Operationszahlen auch den Fachärzten nach Abschluss der Weiterbildung vorzuschreiben. Doch wie in der Aviatik spielen nebst der Flugerfahrung andere Faktoren mit, wie die zwei tragischen Flugunfälle zeigen, die sich kürzlich an einem Wochenende ereignet haben und bei denen drei hochqualifizierte und langjährig erfahrene Piloten im Cockpit sassen.
Anhand einer Langzeitstudie von 1990 bis 2004 konnten Kurtz et al. [9] nachweisen, dass die Revisionsoperationen auch bei ausgezeichneten Orthopäden mit gros­sen Fallzahlen mit zunehmendem Alter der Operateure zwangsläufig zunehmen, was jedoch nicht mit nachlassender Qualität, sondern mit dem Verschleiss der durch sie eingesetzten Implantate zusammenhängt. Die Operateure kommen in die «Wechseljahre», wie es Prof. Hardy Weber, damaliger Chefarzt der Orthopädie am Kantonsspital St. Gallen, treffend formulierte.
Der Einfluss des Implantates auf die Revisionsraten zeigt auch das australische Implantatregister [10]. «High volume surgeons» mit über 70 Knie-Operationen pro Jahr haben kurzzeitig weniger Komplika­tionen, produzieren bei Verwendung von schlechten Implantaten aber mittel- und langfristig höhere Revi­sionsraten. Wie auch das jüngste Beispiel der Resur­facing-Hüften (Kappen-Prothesen) dokumentiert, haben in der Schweiz Operateure, die in grossen Mengen diese Implantate einsetzten, mehr Unheil angerichtet als solche mit weniger Eingriffen, aber unter Verwendung von erprobten Standard-Implantaten. Weniger, aber gut ist besser als viel und schlecht.
Nach welchen Kriterien sollen Mindestfallzahlen festgelegt werden? Anders gefragt, ab welcher Mindestfallzahl pro Eingriff sind bessere Ergebnisse zu erwarten?
Auf die Schwierigkeit, Grenzwerte zu bestimmen, machen Schräder et al. [11] aufmerksam. Wie im Spitzensport und in der Kunst sind ohne kontinuierliche Übung keine Erfolge zu erzielen, aber ohne Talent nützt auch das aufwendigste Training nichts. Es gibt halt einfach chirurgisch Tätige, die das Operieren besser sein liessen. Es verhält sich wie beim Autofahren: Laut der oben erwähnten Umfrage [1] halten sich neun von zehn Befragten als gute Autofahrer.
Die bereits zitierte Gruppe aus Philadelphia [9] bezeichnet jene Operateure als «Top of Surgeons, TOS», die mehr als 25 bis 45 Hüftprothesen und mehr als 33 bis 86 Knieprothesen pro Jahr implantieren. In den USA seien nur 5% aller Orthopäden in der Lage, diese Mengen zu erreichen – ein klares Systemversagen. Wer künftig im Kanton Zürich die festgelegten Mindestmengen von 15 Hüft- und 15 Knieprothesen pro Jahr erreicht, aber nicht mehr, gehört definitiv nicht zu den «Top of Surgeons».
Ein weiteres Problem minimaler Fallzahlen ist die Mengenausweitung zwecks Erreichens der Grenzwerte, worauf Swiss Orthopaedics mehrmals hingewiesen hat [12, 13]. Mit der Verteilung der Punkte zum Nachweis der Mindestmenge fördert die Gesundheitsdirektion Zürich die Mengenausweitung indirekt, weil die Punkte paradoxerweise halbiert werden, wenn zwei Spezialisten gemeinsam operieren. Zusätzlich wird damit das angestrebte Ziel der Qualitätssteigerung torpediert. Denn aus Erfahrung wissen wir: Vier Augen sehen mehr, der Eingriff dauert weniger lang, und man kontrolliert gegenseitig die Indikation.
In Anbetracht der Vorreiterrolle des grössten Kantons und des höchstrichterlichen Segens [14] werden minimale Fallzahlen pro Operateur in Kürze schweizweit Realität sein und auf andere, auch ambulante Eingriffe ausgedehnt werden.
Fazit: Mindestfallzahlen ohne Berücksichtigung der Indikationenqualität, der Sub-Spezialisierung, der Wahl der Implantate, ohne Outcome-Nachweise und mit fragwürdigen Grenzwerten sind ein Surrogat ohne echte Qualitätsverbesserung.
Dr. med. Josef E. Brandenberg
Präsident der FMCH
Rebstockhalde 18
CH-6006 Luzern
josef.brandenberg[at]hin.ch
 1 «Die Welt», 25.3.2014, Welt PS.
 2 Halm EA, Lee C, Chassin MR. Is Volume Related to Outcome in Health Care? A Systematic Review and Methodologic Critique of the Literature. Ann Intern Med. 2002;137:511–20.
 3 Güller U, Warschkow R, Ackermann CJ, Schmied BM, Cerny T, Ess S. Lower hospital volume is associated with higher mortality after oesophageal, gastric, pancreatic and rectal cancer resection. Swiss Med Wkly. 2017 July 24;147:w14473.
 4 Beschluss des Regierungsrates des Kantons Zürich vom 23.8.2017, RRB 746/2017.
 5 Manley M, Ong Kl, Lau E, Kurtz SM. TKA survivorship in the US Medicare population: effect of hospital and surgeons procedure volume. J Arthroplasty. 2009 Oct;24(7):1061–7.
 6 Tsugawa Y, Newhouse JP, MacArthur JD, Zaslavsky AM, Blumenthal DM, Jena AB, et al. Physician age and outcomes in elderly patients in hospital in the US: observational study. BMJ .2017 May;357:j1797.
 7 Merlino J. Defining the Volume–Quality Debate: Is it the surgeon, the center, or the training? Clin Colon Rectal Surg. 2007 Aug;20(3): 231–6.
 8 Sahni NR, Maurice Dalton M, Cutler DM, Eckstein O, Birkmeyer JD, Chandra A, et al. Surgeon specialization and operative mortality in United States: retrospective analysis. BMJ. 2016 July;354:i3571.
 9 Kurtz SM, Ong Kl, Schmier J, Zhao K, Mowat F, Lau E. Primary and revision arthroplasty surgery case loads in the USA from 1990 to 2004. J Arthroplasty. 2009 Feb;24(2):195–203.
10 Australian Orthopaedic Association AOA, National Joint Replacement Registry, Annual Report 2015, https://aoanjrr.sahmri.com
11 Schräder P, Grouven U, Bende R. Können Mindestmengen für Knieprothesen anhand von Routinedaten errechnet werden? Ergebnisse einer Schwellenwertanalyse mit Daten der externen stationären Qualitätssicherung. Orthopaede. 2007 June;36(6):570–6.
12 Brandenberg JE. Minimale Fallzahlen in der Orthopädie und ­Traumatologie. Ein Qualitätskriterium? Schweiz Ärzteztg. 2008;89:45.
13 Müller U, Romero J, Huber J, Brandenberg JE (2016). Minimale Fallzahlen in der Orthopädie und Traumatologie, Positionspapier von Swiss Orthopaedics, www.swissorthopaedics.ch/Kommissionen und Expertengruppen/Empfehlungen und Publikationen.
14 Urteil C-5603/2017 BVerGer, Abteilung III vom 14.9.2018.