Medizinstudium

Warum muss die medizinische Ausbilung weiterentwickelt werden?

Tribüne
Ausgabe
2019/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17157
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(04):91-93

Affiliations
Prof. Honoraire, Dr. med., Lausanne

Publiziert am 23.01.2019

Kürzlich wurde ein «Stimmungsbericht» auf der Website der Faculté de biologie et de médecine1 von Lausanne veröffentlicht. Darin stellte sich der Dekan der Fakultät, Professor Jean-Daniel Tissot, die Frage, ob die Entwicklungen in der Ausbildung der Medizinstudierenden wirklich gewinnbringend sei: «Präsenzlehre, Fernunterricht, Lernziele, Evaluationen, Lernkontrollen: Welchen Sinn hat das? Wo führt uns das hin?» Er stellte auch die Notwendigkeit in Frage, Inhalte wie Wirtschaft, Forschungsethik, Anthropologie, Datenmanagement, Globalisierung zu lehren. Die Fragen sind berechtigt, und die vom Dekan geäusserten Zweifel werden wahrscheinlich von vielen Lehrpersonen geteilt. In diesem Artikel sollen der aktuelle Stand und die zukünftige Entwicklung des ärztlichen Berufs reflek­tiert und die Möglichkeiten der Fakultäten, die ­Studierenden darauf vorzubereiten, abgeleitet werden. Kurz, der Sinn der Veränderungen im Medizinstudium soll deutlich werden.

Medizin im Wandel

Das Wissen im Bereich der Medizin nimmt stetig zu. Die Fakultäten müssen eine Wahl treffen und sich auf die Lehre jener Lernziele konzentrieren, welche die ­Studierenden befähigen werden, am Ende des Studiums als Assistenzärztinnen und -ärzte zu arbeiten. Dazu gehören nicht nur fundiertes theoretisches Wissen und praktische Fertigkeiten, sondern auch die Fähigkeit, sich dem schnell wandelnden Umfeld anzupassen. 
Die zukünftige Ärzteschaft muss im Stande sein, den ­Veränderungen der medizinischen Praxis sowie des gesellschaftlichen und demographischen Umfelds ­kritisch und reflektiert zu begegnen.
Noch sind die Konsequenzen nicht klar absehbar, welche die rasante Weiterentwicklung der bildgebenden Verfahren, die Entwicklung von Algorithmen zur ­Unterstützung von Diagnose und Behandlung, die künstliche Intelligenz und Robotik oder die Gentechnik mit ihren grossen Datenbanken haben werden. Wie wird z.B. die personalisierte Medizin die Behandlung verändern? Neben ethischen Fragen, welche diese Neuerungen mit sich bringen, werden sie den medizinisch Tätigen eine grosse Wandlungsfähigkeit abverlangen, was die Medizinstudierenden bereits zu spüren scheinen [1].
Medizinische Information ist insbesondere durch das Internet allgemein verfügbar geworden. Die «health ­literacy» hat die Erwartungen der Patienten verändert, und die Studierenden müssen lernen, den Patienten den entsprechenden Freiraum zu gewähren im Sinne der partizipativen Entscheidungsfindung [2]. E-Health im Allgemeinen ist daran, das Verhältnis von Arzt zu Patient zu verändern [3]. Des Weiteren greifen immer mehr Institutionen die berechtigten Forderungen der Patienten nach Qualität und Sicherheit in der Pflege auf und fördern einen interprofessionellen Zugang; für einen solchen müssen Medizinstudierende sen­sibilisiert werden [4–6].
Neben all den Veränderungen im medizinischen Bereich gesellen sich die demographischen und gesellschaftlichen hinzu. In einem kürzlich erschienenen Bericht des Bundesamtes für Gesundheit werden diese aufgeführt [7]: steigende Gesundheitskosten, Zunahme der chronischen Krankheiten und der Polymorbidität verbunden mit der Alterung der Bevölkerung, Mangel an qualifiziertem medizinischem Personal. Neue Modelle im Gesundheitswesen und ein geschärftes Bewusstsein der Ärzteschaft werden nötig sein, um diese Herausforderungen zu meistern [8]. Entsprechend müs­sen die Studierenden vorbereitet werden. Die von gewissen medizinischen Fakultäten angestellten Überlegungen zu Professionalismus und Ethik gehen bereits in diese Richtung [9, 10]. Treffend formulierte es ein kürzlich erschienener Leitartikel der Revue Médicale Suisse: Innovation ist kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug für den Wandel [11].

Innovation, Transformation, wie kann man den Herausforderungen begegnen?

Vor einigen Jahren wurde im Lancet ein Reviewartikel veröffentlicht, in welchem eine internationale Expertengruppe eine Bilanz bezüglich der Ausbildung von Gesundheitspersonal zog [12]. Darin wird die Wich­tigkeit eines auf Lernzielen fussenden Konzepts der medizinischen Ausbildung im Sinne einer «competency based medical education» hervorgehoben [13, 14]. Dabei wird eine Kompetenz definiert als die Fähigkeit einer Fachperson, in der Berufsausübung Kenntnisse, Fertigkeiten, Haltungen und Werte zu integrieren. Das Konzept der EPA («Entrustable Professional Activity» [15, 16]) möchte diese Integration, die den Studierenden oft Mühe bereitet, adressieren. Ziel ist es, die Studierenden zu befähigen, eine Reihe von klinischen Tätigkeiten autonom durchzuführen. So könnten die Verantwortlichen der Institutionen, in denen die frisch Diplomierten beginnen, davon ausgehen, dass sie diesen für die Ausführung einer klar umschriebenen Gruppe von Tätigkeiten vertrauen können. Natürlich erfolgt der Weg zur Selbständigkeit schrittweise, zuerst begleitet von einem Mentor, dann alleine, aber mit der Möglichkeit, bei Bedarf einen Supervisor beizu­ziehen, und schliesslich völlig selbständig. Mehr und mehr stösst das Konzept bei den Weiterbildungsverantwortlichen auf Anklang. Der Einsatz von «Entrus­table Professional Activity» ist auch eine Möglichkeit, Ärztinnen und Ärzte für die Bedeutung der Versorgungsqualität zu sensibilisieren: Eine fundierte Aus­bildung, die es ihnen ermöglicht, angemessen, wis­senschaftlich und autonom zu handeln und so die Patientensicherheit zu gewährleisten. Die kürzlich überarbeitete und Anfang dieses Jahres in Kraft getretene Fassung des Medizinalberufegesetzes (MedBG) misst diesem Ziel besondere Bedeutung bei.2
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in einem ausgewogenen Lehrplan für die medizinische Ausbildung Erwerb von Kenntnissen, von grundlegenden klinischen Fertigkeiten, Heranbilden eines Bewusstseins für die Rolle und Verantwortung der Ärzte in unserer Gesellschaft sowie Erlangen von Autonomie in Kenntnis der eigenen Grenzen im Gleichgewicht stehen müssen.

Wie kann die Schweiz dieser ­Herausforderung begegnen?

In ihren Grundzügen wird die schweizerische medi­zinische Ausbildung von der Schweizerischen Medi­zinischen Interfakultätkommission (SMIFK/CIMS) gestaltet, welche vom Bund dazu beauftragt ist, wie es in anderen Ländern auch entwickelt wird [17, 18]. Die praktische Umsetzung ist den Fakultäten überlassen, welche dafür über hohes Mass an Autonomie verfügen. Nach Beendigung des Studiums müssen die Studierenden noch die eidgenössische Prüfung bestehen, um 
in der Schweiz praktizieren zu dürfen. Diese besteht aus zwei Multiple-Choice-Prüfungen und einem OSCE-Parcours (objective structured clinical examination), in welchen die Studierenden mit klinischen Situationen konfrontiert werden, die von standardisierten Patien­ten gespielt werden.
Schliesslich schreibt das Schweizer Universitätsgesetz vor, dass alle Fakultäten regelmässig von unabhän­gigen Expertengruppen akkreditiert werden müssen, wobei das Verfahren von einer Bundesbehörde, der AAQ (Schweizerische Agentur für Akkreditierung und Qualitätssicherung), geleitet wird. Diese jüngsten Entwicklungen sind das Ergebnis des Beitritts der Schweiz zu den Bologna-Abkommen.3
Um zu gewährleisten, dass sich die Kompetenzprofile aller Schweizer Medizinstudierenden einigermassen entsprechen, hat die SMIFK beschlossen, nicht nur die Form und den Inhalt der eidgenössischen Prüfung zu entwickeln, sondern auch ein Dokument, welches die Lernziele für diese festhält. Der SCLO («Swiss Catalogue of Learning Objectives»), in zwei Auflagen erschienen, erwies sich als zu ausführlich und komplex und zu ­wenig an die Anforderungen des MedBG, die Entwicklung der medizinischen Praxis und die aufgeführten didaktischen Konzepte angepasst. Daher rief die SMIFK 2013 eine Arbeitsgruppe ins Leben, um ein neues Dokument zu entwickeln. In den drei folgenden Jahren arbeitete ein Expertenteam, zusammengesetzt aus rund zwanzig akademischen Führungskräften ­aller Fakultäten, Vertretern des Bundesamtes für Gesundheit und des Schweizerischen Medizinstuden­tenverbandes (SWIMSA), an einem kompakten Dokument [19]. Das rund vierzigseitige «PROFILES», das für Principal ObjectivesFor Integrated Learning and Education in Switzerland steht, ist diesen Herbst in Kraft getreten.4 Es soll Didaktiker, Ausbildungsverantwort­liche und Studierende unterstützen, die Studierenden für ihre Berufsausübung vorzubereiten. Es gliedert sich in drei Kapite­l. Das erste beschreibt die Lernziele, die alle Studierenden erreicht haben müssen, das zweite beinhaltet neun EPAs, und das dritte eine Liste gängiger klinischer Situationen («Situations as Starting Points»). Die Inhalte fokussieren auf die Inhalte auf Ebene Master; wissenschaftliche Grundlagen, die v.a. im Bachelor-Teil unterrichtet werden, sind nicht systematisch verzeichnet.

Was bringt die Zukunft?

Die Erneuerung der Curricula als kompetenzbasierte, sich auf PROFILES stützende Curricula kann nur der erste Schritt in die Zukunft sein. Die medizinischen Fakultäten der Schweiz werden in Zukunft immer neu das passende Gleichgewicht zwischen dem Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten und der Ausbildung von autonomen, anpassungsfähigen Studierenden, die für die wirtschaftlichen, ethischen und gesellschaftlichen Aspekte in der Ausübung der Medizin sensibilisiert sind, finden müssen.
– Mit der steigenden Zahl von Studierenden und den kürzeren Aufenthaltsdauern in den Spitälern wird es immer schwieriger, Ausbildung am Krankenbett anzubieten. Die Fakultäten müssen Netzwerke mit allen bestehenden Pflegeeinrichtungen aufbauen, um diese wesentliche Form der Ausbildung aufrechterhalten zu können.
– Immer häufiger sind junge Assistenten bereits zu Beginn ihrer Weiterbildung ausgebrannt. Das zeigt, wie wichtig es ist, die zukünftigen Ärztinnen und Ärzte auf ihre Rolle, auf den Umgang mit den ei­genen Grenzen und auf die Arbeit im Team – mit ­anderen Ärzten, mit den Betreuern und mit Per­sonen aus anderen Gesundheitsberufen – vorzubereiten.
– Der Patient sollte im Zentrum der Tätigkeiten von Ärzten und Pflegenden stehen: Die zunehmende Komplexität von Pathologien und Therapieansätzen, die steigenden Forderungen nach Wirtschaftlichkeit und Effizienz verlangt daher, dass Spitäler neue Formen der Arbeitsorganisation finden, damit sichergestellt wird, dass die Ausbildenden die nötige Zeit finden, um die jungen Ärzte zu betreuen und damit diese genügend Zeit für die Begegnung mit ihren Patienten zur Verfügung haben.
Alle diese Aspekte der Ausbildung beinhalten, wie man so schön sagt, Risiken und Chancen. Hoffen wir, dass die Fakultäten in der Lage sein werden, sich vor allem auf die Chancen zu konzentrieren.
Der Autor ist Dr. Patrick Jucker Kupper für die Überprüfung der Fassung auf Französisch sowie die Übersetzung extrem dankbar.
Prof. Hon. Pierre-André Michaud
Sauge 15
CH-1030 Bussigny
pierre-andre.michaud[at]chuv.ch
 1 Rutberg PC, King B, Gaufberg E, Brett-MacLean P, Dinardo P, Frankel RM. Do Medical Students’ Narrative Representations of «The Good Doctor» Change Over Time? Comparing Humanism Essays From a National Contest in 1999 and 2013. Academic medicine: journal of the Association of American Medical Colleges. 2017;92:537–43.
 2 Rusiecki J, Schell J, Rothenberger S, Merriam S, McNeil M, Spagnoletti C. An Innovative Shared Decision-Making Curriculum for Internal Medicine Residents: Findings From the University of Pittsburgh Medical Center. Academic medicine: journal of the Association of American Medical Colleges. 2018;93:937–42.
 3 Dumiak M. E-health’s future frontiers. Bulletin of the World Health Organization. 2012;90:328–9.
 4 Crabtree EA, Brennan E, Davis A, Squires JE. Connecting Education to Quality: Engaging Medical Students in the Development of Evidence-Based Clinical Decision Support Tools. Academic medicine: journal of the Association of American Medical Colleges. 2017;92:83–6.
 5 Michaud PA, Luthi FT, Clerc M, et al. [Interprofessional education for all ... An awareness experience for undergraduate students in Vaud]. Rev Med Suisse. 2011;7:2363–5.
 6 Olson R, Bialocerkowski A. Interprofessional education in allied health: a systematic review. Medical Education. 2014;48:236–46.
 7 Federal Office of Public Health. Health 2020: global strategy. Bern 2013.
 8 Corrigan P, Parish M. Going with change: Allowing new models of healthcare to be provided for NHS patients. London: Reform; 2014.
 9 Doukas DJ, Kirch DG, Brigham TP, et al. Transforming educational accountability in medical ethics and humanities education toward professionalism. Academic medicine: journal of the Association of American Medical Colleges. 2015;90:738–43.
10 Wynia MK, Papadakis MA, Sullivan WM, Hafferty FW. More than a list of values and desired behaviors: a foundational understanding of medical professionalism. Academic medicine: journal of the Association of American Medical Colleges. 2014;89:712–4.
11 Geissbuhler A. Chacun peut faire la différence. Rev Med Suisse. 2018:1531.
12 Frenk J, Chen L, Bhutta ZA, et al. Health professionals for a new century: transforming education to strengthen health systems in an interdependent world. Lancet. 2010;376:1923–58.
13 Powell DE, Carraccio C. Toward Competency-Based Medical Education. The New England journal of medicine. 2018;378:3–5.
14 Ten Cate O, Billett S. Competency-based medical education: origins, perspectives and potentialities. Med Educ. 2014;48:325–32.
15 Ten Cate O. Nuts and Bolts of Entrustable Professional Activities. Journal of graduate medical education. 2013;5:157–8.
16 Chen HC, van den Broek WE, ten Cate O. The case for use of entrustable professional activities in undergraduate medical education. Academic medicine: journal of the Association of American Medical Colleges. 2015;90:431–6.
17 Laan RF, Leunissen RR, van Herwaarden CL. The 2009 framework for undergraduate medical education in the Netherlands. GMS Zeitschrift für medizinische Ausbildung. 2010;27:Doc35.
18 Association of American Medical Colleges. Core Entrustable Professional Activities for Entering Residency. Washington DC: Association of American Medical Colleges; 2014.
19 Michaud PA, Jucker-Kupper P, The Profiles Working G. The «Profiles» document: a modern revision of the objectives of undergraduate medical studies in Switzerland. Swiss Med Wkly. 2016;146:w14270.