Rentenprüfungsverfahren bei psychischen Störungen – eine Kritik

Tribüne
Ausgabe
2019/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17295
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(04):94-96

Affiliations
Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, in eigener Praxis, Mitglied FMH

Publiziert am 23.01.2019

Die Finanzen der Invalidenversicherung sind wieder im Lot. Die Arbeitsintegrationsprogramme sind implementiert. In den letzten Jahren erlebte eine erhebliche Anzahl chronisch kranker Menschen einen Versicherungsausschluss. Die Rentenprüfverfahren erfüllen nicht die Kriterien einer evidenzbasierten Medizin. Die Beurteilungen der medizinischen Gutachter weisen eine unter der Erwartung liegende Interrater-Reliabilität auf. Dem Rentenprüfprozess droht der Verlust einer klaren medizinischen Basis. Das neue Observationsgesetz erteilt alle Macht den Versicherungen. Befürchtet wird mangelnde Sorgfalt bei der Verdachtserhebung gegenüber Sozialversicherungsbezügern und -Antragstellern sowie bei der Beurteilung von Observationsbefunden.

Fehlende Evidenzbasierung

Die Anzahl IV-Betrüger beträgt einige Promille aller ­IV-Bezüger. Diese Zahlen sind bekannt aus der Zeit der Observationen, bevor der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schweiz wegen mangelnder Gesetzesgrundlage gerügt hatte. Beispielsweise beziehen im Kanton Aargau 99,97% der Bezüger ihre IV-Rente rechtmässig [1].
Viel höher ist die Anzahl derjenigen Antragsteller, deren Rentenanträge abgelehnt wurden, und die Anzahl der Bezüger, die Rentenaufhebungen oder Rentenkürzungen erfahren mussten. 2006 bezogen 3,4% der Bevölkerung eine IV-Rente. Diese Zahl wurde auf aktuell 2,6% gesenkt [2]. Diese 2,6% Rentenbezüger sind in ein Verhältnis zu stellen zu den bekannten Erkrankungsraten zum Beispiel in Bezug auf rezidivierende und chronisch verlaufende Depressionen, Schizophrenie und weitere.
Das Narrativ der Scheininvaliden entspricht in wissenschaftlicher Terminologie den falsch-positiven Beurteilungen. Falls damals zu viele Rentengutheissungen erfolgten, so stellt sich die Frage, ob nun zu wenige Anträge gutgeheissen werden (falsch-negative Beurteilung).
Die von Kollegin Doris Brühlmeier erhobenen Stichproben zum sozialen Status nach Rentenablehnung im Vergleich zu Rentenerteilung [3] lassen diese Vermutung zu. Das Schicksal der von Rentenablehnung Betroffenen wurde bisher nie wissenschaftlich evaluiert. Deren reale Arbeitstätigkeit und soziale Situation nach ablehnendem Entscheid wird von keiner offiziellen Stelle erfasst. Eine evidenzbasierte Medizin erfordert eine Nachuntersuchung nach Intervention (Kata­mnese). Die Medizin und ihre Massnahmen sind dann wissenschaftlich legitimiert, wenn sie sich in Diagnostik und in der Auswirkung ihrer Interventionen mittels Verlaufskontrolle verifizieren lassen.
Die RELY-Studien der Abteilung für Versicherungs­medizin der Universität Basel [4] zeigen, dass die Be­urteilung des gleichen Falles durch verschiedene ärztliche Gutachter sehr unterschiedlich ausfällt (geringe Interrater-Reliabilität). Auch ein neues Gutachtertraining führt nicht zu der erwarteten Übereinstimmung der Gutachter. Das lässt die Vermutung zu, dass die Begutachtung und die Gutachtenkriterien nicht auf grösserer Objektivität basieren als die Beurteilung durch die behandelnden Ärzte.

Procédure d’examen des rentes en cas de troubles ­psychiques

Le nombre de fraudeurs AI s’élève à quelques-uns pour mille bénéficiaires d’une rente. Le nombre de demandeurs qui se voient refuser une rente est bien plus élevé. Si trop de rentes étaient autrefois accordées, on peut aujourd’hui se demander si le nombre de demandes approuvées n’est pas trop bas. La médecine fondée sur les faits exige un examen de suivi après les interventions. Les études RELY (médecine des assurances, Université de Bâle) indiquent que l’évaluation d’un même cas par différents experts médicaux montre un faible niveau de fiabilité inter-évaluateurs.
Le médecin traitant traduit les troubles du patient en évaluation médicale. Le médecin d’assurance devrait traduire la situation médicale aux juristes. Or aujourd’hui, de nombreux médecins d’assurance ne se considèrent plus que comme des ambassadeurs des décisions judiciaires auprès des médecins traitants et des patients. Des jugements qui s’immisçaient largement dans l’évaluation médicale ont dû être retirés («syndrome sans patho­genèse ni étiologie claires et sans constat de déficit organique» et «épuisement des possibilités thérapeutiques»). Le critère des «facteurs de stress psychosociaux» permet en outre une exclusion de l’assurance. Les facteurs de stress sont considérés comme des déclencheurs dans la plupart des ­affections psychiques. Leur lien avec l’affection devrait être examiné de ­manière différenciée sur le plan médical.

Der Richtungswechsel im Übersetzungsprozess Patient–Arzt–Jurist

Das IV-Verfahren kann verstanden werden als Über­setzungsprozess von Patient zu Arzt, zu Jurist. Der behandelnde Arzt nimmt die Beschwerden und Befunde des Patienten auf und übersetzt diese Beschwerden in eine medizinische Befundsprache und Beurteilung. Der Versicherungsmediziner (externe Gutachter, IV-Ärzte) soll die medizinischen Befunde überprüfen, werten und den Juristen gegenüber vertreten, d.h. den Juristen den medizinischen Sachverhalt und die Beurteilung übersetzen. 
Der ursprüngliche Ablauf von Übersetzungsarbeit hat in die andere Richtung gedreht. Die Versicherungs­mediziner teilen den Patienten und Behandlern mit, dass gewisse medizinische Tatsachen juristisch «nicht-IV-relevant» seien. Heutzutage verstehen sich somit viele der externen medizinischen Gutachter und IV-­internen Ärzte hauptsächlich als Überbringer juristischer Urteile an die behandelnden Ärzte und die Pa­tienten.
Die vom Bundesgericht gefällten Urteile, die sich weit in die medizinischen Beurteilungen einmischten, mussten zum Teil zurückgenommen werden. Die IV-Ärzte hatten die vom Bundesgericht vom Versicherungsschutz ausgeschlossenen Päusbonog-Diagnosen (Päusbonog = pathogenetisch ätiologisch unklare syndromale Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage) von der Rentenprüfung ausgenommen. Sie hatten neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu diesen Diagnosen kaum von sich aus einbezogen und korrigierend an die Juristen weitergeleitet. Gleichermassen nahmen die IV-Ärzte das vom Bundesgericht eingeführte Kriterium der «Austherapiertheit» in ihre Checklisten auf.
In diesen beiden Fällen musste das Bundesgericht die Praxis wieder korrigieren, dank der Einwände der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie SGPP/FMPP und von psychiatrischen Chefärzten.

Versicherungsausschluss

Weiterhin besteht ein durch die Justiz begründetes Kriterium, das Kriterium der «psychosozialen Belastungsfaktoren», das einen Versicherungsausschluss ermöglicht. Psychosoziale Belastungsfaktoren sind in fast allen Leben eruierbar (alleinerziehend sein, Beziehungstrennungen, Tod nahestehender Personen, Migration in der Lebensgeschichte usw.). Psychosoziale Belastungsfaktoren gelten als Auslöser bei den meisten ­psychischen Erkrankungen. Deren Verbindung zur Krankheit muss medizinisch differenziert betrachtet werden. Besonders bei chronisch kranken Menschen mit Funktionseinschränkungen ist das Zusammenspiel zwischen Belastung, vorbestehender oder durch Krankheit entstandener Vulnerabilität wie auch möglicher Remission bei Wegfall der Belastung genau zu differenzieren. Häufig trifft eine Belastung auf eine vorbestehende Krankheit oder macht die Krankheit erst sichtbar. Das Bundesgericht hat ein Tor dafür ­geöffnet, dass das Kriterium der Belastungssituation undifferenziert herangezogen werden kann, um die Ablehnung eines Rentenantrages zu begründen.
Nachfolgend eine unvollständige Liste verschiedener Fallstricke, die benutzt werden, um einen Renten­anspruch abzuweisen:
– Psychosoziale Belastungsfaktoren: Ein Patient mit vielen Hinweisen auf eine vorbestehende schwere psychische Störung dekompensiert anhaltend nach dem Tod eines Elternteils. Der Tod des Elternteils wird als Begründung dafür heran­gezogen, dass «nicht-IV-relevante Faktoren» vorliegen würden und damit kein Rentenanspruch bestehe.
– Therapie: Gutachter bezweifeln oder entwerten die Behandlungskompetenz der Behandler. In einem Beispiel behauptet der Gutachter das Vorliegen einer schädigenden Medikamentenkombination, ohne dies zu belegen und ohne dass es in den anerkannten Interaktionsprogrammen einen Hinweis auf diese schädigende Kombination gibt. In anderen Fällen wird eine ungenügende Pharmakotherapie moniert, ohne Einbezug des evidenten Wissens über die begrenzte Wirksamkeit von Psychopharmaka und die schlechte Ansprechrate bei negativer ­Erwartungshaltung der Patientin (Nocebo), der Nebenwirkungsraten und des ungenügenden Wissens über die Aussage von Medikamentenspiegeln. Ein weiteres Beispiel: Es wird einer Patientin mit einer Angst- und Depressionsstörung vom medizinischen Gutachter neu die Diagnose «schädigender Gebrauch von Benzodiazepinen» gestellt, obwohl in fünf Behandlungsjahren insgesamt nur 70 Tabletten Lorazepam (d.h. im Durchschnitt 14 Stück pro Jahr) zum Erhalt der Teilarbeitsfähigkeit in Krisen­situationen verschrieben wurden.
– Befunde der Versicherungsdetektive: Noch ist offen, wie diese Befunde eingesetzt werden.

Zu den Versicherungsdetektiven

Wer bestimmt, dass ausreichende Hinweise bestehen, um einen Verdacht zu begründen und damit die Observation zu rechtfertigen? Wer interpretiert die erhobenen Observationsbefunde im Rahmen der bestehenden Erkrankung?
Die im Gesetz fehlende Gewaltenteilung erteilt alle Macht den Versicherungen. Ein System von «Checks and Balances» ist nicht vorgesehen. Die Anordnung der Observation alleine durch die Versicherungen bedeutet, dass die Observation ein gewöhnliches Instrument im Rentenprüfprozess wird. Ebenso wird eine mangelnde Sorgfalt in der Beurteilung und Einordnung der Observationsbefunde im Rentenprüfverfahren befürchtet.
maria.cerletti[at]hin.ch