Interview mit David Bosshart, Leiter des Gottlieb Duttweiler Instituts

«Was wir brauchen, sind Besserkönner, nicht Besserwisser»

Tribüne
Ausgabe
2019/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17461
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(06):182-183

Affiliations
Print- und Online-Redaktor SÄZ

Publiziert am 06.02.2019

Alle Jahre wieder: Die Gesundheitskosten steigen und mit ihnen die Krankenkassenprämien. Egal welche Massnahmen ergriffen werden, die Kostenspirale dreht sich ungebremst weiter. Der Trendforscher David Bosshart ist überzeugt, dass nur ein tiefgreifender Kulturwandel ein Ende der Kostenexplosion herbeiführen kann. Sind wir dazu nicht bereit, ist der Kollaps vorprogrammiert.
Vorschläge, wie man die Gesundheitskosten in den Griff bekommt, gibt es viele. Doch schlussendlich geschieht wenig. Weshalb gestaltet sich ein Wandel im Gesundheitswesen so schwer?
Aus meiner Sicht gibt es dafür zwei Hauptgründe. Erstens sind wir in einer sogenannten Status-quo-Verzerrung gefangen. Mit diesem in der Verhaltensökonomie verwendeten Begriff wird eine übermässige Bevorzugung des Ist-Zustandes gegenüber Veränderungen zusammengefasst. Seit den 1980er Jahren klagen wir über steigende Prämien, und jedes Jahr heisst es, nun sei die Schmerzgrenze erreicht. Anstatt die Kostenexplosion nachhaltig einzudämmen, verschieben wir einfach die Schmerzgrenze. Es ist wie bei einem Drogenabhängigen, der weiss, dass er sich Schaden zufügt und trotzdem immer weitermacht.
DAVID BOSSHART
David Bosshart leitet das Gottlieb Duttweiler Institut.
Und welches ist der zweite Grund für einen ausbleibenden Kurswechsel?
Im Gesundheitswesen hat sich die Logik der industriellen Welt etabliert. Für jedes neue Problem wurden und werden entsprechende Spezialistenstellen geschaffen. Heute müssen wir feststellen, dass die mittlerweile ­unerlässlichen Expertinnen und Experten das System dominieren. Die zunehmende Spezialisierung, die ­Veränderung der Krankheitsbilder und das hohe Anspruchsniveau seitens der Patienten führen zu einem beachtlichen Komplexitätsstress. Zusätzlich versucht jeder an der Wertschöpfungskette beteiligte Dienstleister, in seinem Bereich Wachstum zu generieren. Damit kommt es zwangsläufig zu einer Fragmentierung der unterschiedlichen Interessen, die einzeln betrachtet zwar legitim sind, aber eine schnelle, umfassende Lösung verunmöglichen.
Wo sehen Sie als Trendforscher den Lösungsansatz?
Es braucht kluge Visionen oder zumindest grobe und flexible Richtungsvorgaben, was man erreichen will, die auch nicht vor einem tiefgreifenden Kulturwandel haltmachen. Dabei spielen zwei Bereiche eine entschei­dende Rolle: Grundlagenforschung und Datenmanagement.
Können Sie das etwas ausführen?
Wir werden uns aus moralisch-ethischer Sicht äusserst schwierigen Fragen stellen müssen. Zum Beispiel: Wie lassen sich vererbbare Krankheiten früh erkennen und vermeiden? Parallel dazu wird die Datenhoheit immer wichtiger. Eine solide Datenbasis ermöglicht, bessere Entscheidungen, sei es in der Prävention, Prädiktion, Diagnose oder Therapie, zu fällen. Deshalb müssen wir uns überlegen, ob nicht jede Patientin, jeder Patient dazu verpflichtet werden sollte, seine anonymisierten Gesundheitsdaten in einen Datenpool einfliessen zu lassen. Vorgängig ist jedoch zu definieren, welche Gesundheitsdaten welchen ökonomischen Wert haben. Denn Daten ohne einen ökonomischen Wert werden spekulativ eingesetzt, wovon nur grosse, mächtige Player profitieren.
Daten führen jedoch auch zu mehr Transparenz. Etwas, das im Gesundheitswesen nicht gern gesehen wird …
Für zukunftsfähige Lösungen ist eine umfassende Transparenz, die auf einer soliden Datenbasis gründet, unabdingbar. Transparenz ist immer ambivalent. Wenn damit etwas offengelegt wird, das man so nicht erwartet hat, ist man enttäuscht. Zudem kann man im Schutz der Intransparenz unbehelligt sein eigenes Süppchen kochen. Erst wenn wir Transparenz ins Gesundheitssystem bringen, werden wir feststellen, wie viel Unvernunft sich darin angesammelt hat.
In den letzten Jahren greift der Staat vermehrt ein, um die Kostenexplosion einzudämmen. Eine gute oder eine schlechte Entwicklung?
Wir müssen uns von dem binären Denken lösen, das uns sagt, alles, was vom Staat kommt, ist schlecht und nur freier Wettbewerb ist gut, oder umgekehrt. Im Zentrum muss die Frage stehen «Wie kooperieren wir?». In unseren föderalistischen Strukturen kommt den Kantonen als Bindeglied zwischen Bund und Gemeinden eine entscheidende Rolle zu. Sind die Kantone innovativ und können die Steuerung untereinander vorantreiben, lassen sich populistische Lösungen wie beispielsweise die Einführung eines Globalbudgets vermeiden. Der Einsatz populistischer Keulen wäre ein Zeichen, dass unser System versagt hat. Und dass wir noch schneller segmentierte Mehrklassensysteme entwickeln. Das hiesse dann, dass auch das Gesundheitswesen eine globale Struktur bekommt wie der ­Arbeits- oder der Kapitalmarkt.
Werden wir noch etwas konkreter. Welche Schritte sind Ihrer Meinung nach kurz- und mittelfristig nötig, um einen Kulturwandel im Gesundheitssystem einzuläuten?
Als Erstes müssen sich alle Akteure auf ein gemeinsames Ziel, welches in zehn bis fünfzehn Jahren erreicht werden soll, einigen. Zudem müssen wir den Mut aufbringen, kompetenten, veränderungswilligen Leuten einen möglichst grossen Spielraum zu geben, etwas Neues zu entwickeln. Wie bei einem Start-up braucht 
es dafür Pioniere, die unabhängig und losgelöst von Reputationsängsten das Gesundheitswesen umkrempeln. Was wir brauchen, sind Besserkönner, nicht Besserwisser.
Sind wir Schweizer mutig genug für einen solchen Schritt?
Wir Schweizer wagten uns in der Vergangenheit durchaus, visionäre Projekte anzugehen. Ich denke da beispielsweise an den Tunnelbau oder unsere Zivilschutzanlagen. Nun gilt es, diesen Pioniergeist auch bei der Konzeption und Umsetzung von Visionen über der Erdoberfläche zuzulassen. Der grösste Widerstand, den es initial zu überwinden gilt, ist die wohlstands­bedingte Lethargie. Schliesslich braucht es viel Energie und Mut, vermeintliche Sicherheiten aufzugeben und alte Strukturen aufzubrechen. Doch die Zeit drängt. Noch ist der Gestaltungsspielraum relativ gross. Je länger wir zuwarten, desto weniger können wir vernünftig entscheiden. Irgendwann kommt ein internationaler Anbieter, der uns dann seine Spielregeln aufdrückt. Schliesslich ist die Schweiz aufgrund der Kaufkraft, des Qualitätsbewusstseins und der Bereitschaft, im ­Gesundheitswesen hohe Preise zu bezahlen, attraktiv. Die Devise lautet: Program or be programmed.

Gottlieb Duttweiler Institut GDI

Das Gottlieb Duttweiler Institut ist ein unabhängiger Think-Tank vor allem im Bereich Konsum, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Einrichtung will dank unabhängiger Forschung queres und unkonventionelles Denken fördern, um daraus wegweisende Ideen und Konzepte entstehen zu lassen. Das Institut ist ein Ort der ­Begegnung und soll Raum für kühne Ideen und grenzüberschreitende Kommunikation schaffen.
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