Bestiarien

Zu guter Letzt
Ausgabe
2019/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17490
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(05):154

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 30.01.2019

Bärtierchen sind etwa so gross wie der Punkt am Ende dieses Satzes. Achtbeinige Mikroorganismen, die sich ähnlich wie Bären fortbewegen. Sie haben erstaunliche Eigenschaften, so können sie in einer Art Kältestarre bei extremsten Umweltbedingungen, auch im Weltall, überleben. Im Museumsshop von «Micropia» in Amsterdam ­bereichern sie als kuschelige Plüschtiere die Spielkiste. Dort treffen sie auf Dinosaurier, Monstren aller Art, Drachen und Comicfiguren wie Spider- oder Ironman.
Das moderne Bestiarium nährt sich von wissenschaftlichen Entdeckungen in der Tiefsee, von Organismen unter dem Mikroskop und von den Funden der Palä­­­ontologen. Davon abgeleitet entstehen die Fantasiepro­dukte der Computeranimationen, die mit einer perfekten Parallel-Realität Buchautoren und Filmregisseure animieren. Die Realität, die wir wahrnehm­en, wird von fantastischen Wesen bevölkert, die jede mittel­alterliche Vorstellung von Chimären und Hybriden übertreffen. Es sind zwei komplett verschiedene Sehwelten, die fast nichts gemeinsam haben. Die Tier­darstellungen, die seit der Antike immer wieder neu kommentiert, gemalt und erweitert wurden, verbergen eine religiöse und moralische Lektion. Ursprung und Schlüsseltext ist der Physiologus, ein Werk aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt, über Jahr­hunderte populär und in vielen Sprachen ­gelesen. Ein Versuch, die natürliche Welt in eine christliche Gesamtanschauung zu übertragen, in der, abgesehen von Fabelwesen, vor allem Ameisen und Bienen ­Bescheidenheit, Gehorsam und Fleiss verkörpern, die Viper vor Ehebruch warnt, das Einhorn die Jungfräulichkeit ehrt und Falken oder Pferde die Tugenden des Adels ­beschwören. Ein Bilderreigen voller Symbolik, ein Wertekosmos, der sich direkt auf den Betrachter bezieht. Der Mensch und seine Organe bleiben schicksalhaft mit terrestrischen und siderischen Kon­stellationen verbunden.
Seit Hume und Darwin ist nicht mehr viel davon übriggeblieben. Carl von Linné hat 1735 alle bekannten Arten in seiner Taxonomie systematisiert und mit einem ­Abschnitt über Animalia Paradoxa ergänzt, der alle aus Legenden und Mythen bekannten Geschöpfe auflistete. Ähnlich den weissen Flecken auf Landkarten, die noch lange Zeit Reservate für Monstren blieben. Seither hat keine Generation so viel Wissen über unsere ­reale Umwelt angehäuft wie unsere. Da Fauna und Flora heute fast ausschliesslich einer Verwertungs­logik unterliegen, hat sich die Sicht auf die Umwelt ­dramatisch verändert. Merkwürdigerweise sind wir nicht einfach zufrieden, in allen Primaten die nächsten Familienmitglieder oder in Foraminiferen die Schönheit der Natur zu schätzen. Geblieben ist die Erfahrung, dass die gefährlichsten Ungeheuer für Menschen seine Mitmenschen sind. Geblieben sind die Engel, ­Dämonen und Geister, der Weihnachtsmann und die Zahnfee, die Aliens, T-Rex und die Comic-Heroen. Vielleicht weil imaginäre Wesen, wozu auch die längst ­ausgestorbenen gehören, unsere Eigenschaften besser spiegeln als eine zigtausendfach vergrösserte Milbe oder ein Leuchtfisch der Tiefsee. Das Resultat ist auch für die Heilkunst eine gewisse Heimatlosigkeit, auch wenn niemand auf die Fortschritte der Diagnostik und Therapie verzichten möchte. Moderne Märchen­erzähler haben die alten Bestiarien abgelöst. Trans­humanisten, die unser Heil in der Verschmelzung mit Maschinen suchen, Astrophysiker, die Exoplaneten mit fantastischen Wesen bevölkern, SF-Schreiber, die intergalaktische Abenteuer schildern, und Fantasybuchautoren, die eine neue Zoologie magischer Kreaturen erschaffen. In diesen Chor stimmen die Lockrufe der Medizin ein. Sirenenklänge von einem schönen, gesunden, langlebigen, vielleicht einmal unsterblichen Körper. Im altägyptischen Totengericht wird das Herz des Verstorbenen gegen eine Feder aufgewogen. Wer durchfällt, den verschlingt ein Ungeheuer, halb Krokodil und Nilpferd mit dem Rumpf eines Löwen. Daran hat sich nichts geändert.
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