Kurzsichtigkeit oder Blindheit?

Zu guter Letzt
Ausgabe
2019/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17542
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(11):406

Affiliations
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, Vouvry, Mitglied der FMH

Publiziert am 13.03.2019

Auf mindestens zwei Gebieten ist unser Bundesparlament in seiner Mehrheit mit Blindheit geschlagen – zum einen, wenn es um die Gesundheit der Bevölkerung, zum anderen, wenn es um jene des gesamten Planeten geht.
Mein chronischer Optimismus lässt mich zur Kurzsichtigkeit tendieren! Noch bleibt mir ein Quäntchen Hoffnung, dass sich die Sehschärfe unserer Volksvertreter korrigieren lässt, wenngleich einige Blinde im kommenden Herbst möglicherweise zurückgewiesen werden müssen.
Bertrand Kiefer, der Chefredakteur der Revue Médicale Suisse, warnt in Sachen Gesundheit seit Jahren vor dem Verlust der Sehschärfe unserer Bundesbehörden. Sie investieren nicht richtig in die Prävention und sind unglaublich tolerant in Richtung Tabakindustrie (um nur diese beiden Beispiele zu nennen) – und jetzt bringen sie uns DIE Lösung für alle Probleme unseres Gesundheitssystems: eine Erhöhung der Jahresfranchise um 50 Franken! Man glaubt sich im falschen Film …!
Nicht nur ist Tabak trotz der seit inzwischen über fünfzig Jahre bekannten tödlichen Konsequenzen noch immer nicht verboten, er darf auch immer noch beworben werden! Alkoholwerbung läuft auf allen Fernsehkanälen und wurde am 23. September 2009 sogar von den beiden Kammern der Bundesversammlung erlaubt – in beiden Fällen mit Verweis auf die Freiheit des Handels.
Tabak kostet unser Land deutlich mehr, als er ihm einbringt, aber offensichtlich sind die Geldbörsen von Geber und Nehmer nicht dieselben … Ausserdem sterben deutlich mehr Menschen durch Tabak als beispielsweise durch Asbest oder Kokain. Man braucht sich nur vorzustellen, die Werbung für diese beiden Produkte sei in der Schweiz erlaubt – mit dem Argument, dass dies einige Arbeitsplätze schaffe oder rette …
Verirrungen dieser Art in der Entscheidungsfindung der parlamentarischen Mehrheit haben alle denselben Ursprung: eine sehr kurze Sicht und daher die Dia­gnose Kurzsichtigkeit! Die Belange der Wirtschaft um jeden Preis verteidigen heisst zahlreiche Menschen­leben opfern.
Und auch die Gesundheit unseres ebenfalls bedrohten Planeten wird in Bern nicht besser verteidigt – auch aus kurzsichtigen ökonomischen Gründen. Dabei wurde bereits von zahlreichen Experten aufgezeigt, dass unsere Wirtschaft von einer 180°-Wende, mit einer Umkehr der verheerenden Umweltauswirkungen einer noch im Denken des 19. Jahrhunderts verhafteten Indus­triegesellschaft, zu profitieren hätte – bereits mittel­fristig, auf jeden Fall aber auf lange Sicht [1]. Aber unser Parlament hat kalte Füsse – oder woher sonst kommt die Weigerung, effiziente Massnahmen gegen die Klimaerwärmung treffen zu wollen … Und die Neinsager sind im ganzen Land am Werk, fasziniert von der intellektuellen Brillanz eines Donald Trump oder Bolsonaro, die ohne zu erröten die Wissenschaftler dieser Welt gemeine Lügner schimpfen und sie alle einem grossen Lügenkomplott der westlichen Welt zuweisen.
Am 18. Januar dieses Jahres hat die Jugend unseres Landes mobil gemacht, um mit viel Energie diese parlamentarische Starre zu durchbrechen. Die Arroganz des Genfer Nationalrats Benoît Genecand (FDP) (veröffentlicht von der Tribune de Genève [2]) angesichts der Ankündigung dieses Proteststreiks ist beispielhaft für die unter der Bundeskuppel herrschende Kurzsichtigkeit (hier im Verbund mit der Schwerhörigkeit): Dieser Abgeordnete ist nicht in der Lage, den Schrei der Besorgnis von Tausenden von Jugendlichen zu vernehmen; vielmehr erhebt er sich und gibt Lehrstunden in Sachen Ökologie und Demokratie.
In seinen Bloc-notes vom 21. November [3] verweist Bertrand Kiefer auf unsere Verantwortung als Ärzte angesichts der Dringlichkeit der Lage und der verwerflichen Unbeweglichkeit unseres Bundesparlaments und sagt: «Das Schweigen der Ärzteschaft wird unhaltbar. Letztere kann sich nicht ihrer Verantwortung entledigen, die Realität zu verteidigen und die Wissenschaft nicht zu verleugnen» und «Kurzfristige, von der wirtschaftlichen Elite vertretene Wirtschaftsinteressen laufen unaufhörlich gegen langfristig ausgerichtete Entscheidungnahmen».
Als Mediziner können wir – unabhängig von der poli­tischen Couleur – nicht stumm bleiben. Die Ärzte des 19. Jahrhunderts, die sich gegen die Kinderarbeit in den Minen ausgesprochen haben, taten dies nicht aus politischer Überzeugung, sondern weil sie als Menschen ganz bewusst nicht schweigen konnten.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, werden wir denselben Mut und dieselbe Weitsicht haben?
francoispilet[at]vouvry-med.ch
1 RTS La 1ère, FORUM vom 2.1.2019, Interview von François Vuille, Professor an der EPFL, unter dem Titel Start-up suisses, Softcar.
2 Benoît Genecand. CO2: si l’on taxait les platitudes. Tribune de Genève, 16.1.2019.
3 Bertrand Kiefer. Médecine durable, l’oubli majeur. Revue Médicale Suisse, Nr. 628 vom 21.11.2018, S. 2144.