Autonomie

Zu guter Letzt
Ausgabe
2019/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17565
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(08):278

Affiliations
Prof. Dr. theol., Mitglied der Redaktion Ethik

Publiziert am 20.02.2019

Die Schweizerische Akademie für Medizinische Wissenschaften hat Richtlinien zur Beurteilung der Urteilsfähigkeit in der medizinischen Praxis herausge­geben. Urteilsfähigkeit wird allen Patientinnen und Patienten bis zur begründeten Annahme des Gegenteils zugeschrieben – ausser den offensichtlichen Fällen wie Säuglingen oder Bewusstlosen – und beinhaltet verschiedene komplexe Fähigkeiten: nicht nur das ­Erfassen, Verstehen und Bewerten von relevanten Informationen, sondern auch die Fähigkeit, angesichts dessen einen Entscheid zu treffen, diesen zu kommunizieren und zu vertreten.1 Um Himmels willen, ich fürchte, bei einer solchen Anforderung bin ich nicht einmal ansatzweise urteilsfähig, wenn ich jeweils morgens vor meinem Kleiderschrank stehe.
Aber natürlich geht es in der Medizin um existenziellere Fragen mit weitreichenderen Konsequenzen. Welcher Therapie stimme ich zu, wo will ich mich wie behandeln lassen und vor allem auch, wie und wann will ich mein Leben beenden?
Der Patient, die Patientin ist das letzte Mass aller Dinge, wenn es um solche Entscheidungen geht. Und es ist ja erfreulich, dass die allwissenden Halbgötter verschwunden sind, die jeweils ihre eigene Subjekti­vität gleich auch in die Frage nach dem Befinden hineingeschmuggelt haben: «Na, wie geht es uns denn heute?» Allerdings ist dann das Pendel erst einmal in die Gegenrichtung ausgeschwungen, die Götter wurden entmachtet und die Autonomie des Patienten / der Patientin wurde zum ersten aller biomedizinischen Prinzipien ernannt.
Autonomie – die Selbstbestimmung, und laut Immanuel Kant die Fähigkeit, eine Kausalkette von selbst anfangen zu können. Das erste Dominosteinchen, das aus eigenem Antrieb umfällt. Wie wenn wir Menschen aus dem Nichts heraus Kausalketten beginnen könnten – diese Illusion hat uns die Hirnforschung ja auch gleich wieder ausgetrieben. Wir selber sind mitsamt unserem Denken und Handeln der Kausalkette von Natur und Umwelt unterworfen, und wir können uns höchstens noch den Ausgang zuschreiben und die Verantwortung dafür übernehmen. Ich war’s, die diese Vase umgeworfen hat, die diesen Unfall verursacht hat – auch wenn es die blendende Sonne war oder die ­unwillkürliche Bewegung. Ich bin es und stehe dahinter mit meiner Aussage und meiner Unterschrift, dass ich dieser Operation zustimme oder dass ich diese Chemotherapie nicht mehr weiterführen will. Allerdings, bin das wirklich ich selbe­r – oder ist es nicht vielmehr meine Angst vor dem Ungewissen, den Schmerzen, vor dem Sterben, dem Tod? Und das Ganze inmitten der Hilflosigkeit meiner Familie, der Erwartungen der ­Gesellschaft und der lücken­losen Kausalkette eines Grossspitals? Kann ich denn wirklich entscheiden, als Rädchen eines Systems von Neigungen, Ängsten, Hierarchien und durchorganisierten Abläufen?
Auch Immanuel Kant wusste um die Fragilität der Auto­nomie – und hielt trotzdem an ihr fest als der Bedingung der Möglichkeit von Ethik. Nur wenn ich kann, kann ich auch sollen. Und daran hängt das Menschsein. Aber wo bei Kant lediglich eine Frage anzukreuzen war (kann ich wollen, dass die Maxime meines Handelns zur allgemeinen Gesetzgebung werden könne?), sind es in der elektronischen Evaluation der Urteilsfähigkeit2 deren mindestens drei – mit Unterfragen: Wissen Sie, was Sie tun, warum Sie es tun und was es für Sie bedeutet? Ach, wie sehne ich mich nach der alten Autonomie zurück: Ich tu’s, weil ich kann und weil ich will! Und die Konsequenzen waren dem guten Kant egal, es ging ums Prinzip. Als Philosoph darf er das.
Im realen Leben – und damit auch in der Medizin – liegt das Gewicht auf der Folgenabschätzung. Die Autonomie kommt allerdings auch hier wieder prominent ins Spiel: in einer Tagungsreihe, die seit 2015 «Auto­nomie und ...» durchdekliniert. Im Jahr 2019 heisst es «... und Digitalisierung». Angesichts von weltweiter ­digitaler Vernetzung, Big Data und Datenklau fühle ich mich zunächst zwar eher ausgeliefert als autonom. Aber Digitalisierung heisst, dass ich alle meine gesundheitsrelevanten Daten messen und kennen kann, und damit kann ich meine Gesundheit in meine eigenen Hände nehmen. Allerdings nur, wenn ich mich der ­jeweiligen Hard- und Software und den Spezialisten ausliefere und ihnen glaube, welche Daten gesundheitsrelevant und welche Schwellenwerte alarmierend sind. Und schon ist meine Autonomie wieder zum Spielball von anderen geworden.
Spätestens dann ist meine Urteilsfähigkeit dringend gefragt. Was will ich messen, warum tue ich es und was bedeutet ein gutes Leben und Sterben für mich? Die Freiheit zu eigenen Antworten sollten wir uns nicht nehmen lassen.
christina.ausderau[at]saez.ch