Zum Tag der Kranken 2019

Gesundheitswissen stärkt Patienten

FMH
Ausgabe
2019/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17593
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(09):291-292

Affiliations
Dr. med., Delegierter der FMH und Vizepräsident «Tag der Kranken»

Publiziert am 27.02.2019

Über mangelnde medizinische Informationen können wir uns in der heutigen Zeit nicht beklagen. Fragen und Informationen zu unserer Gesundheit finden breiten Anklang auf Websites, Blogs, Informationsbroschüren, Zeitschriften, Fernsehen, Youtube, Selbsthilfeforen und Ratgeber welcher Art auch immer. Dabei wird es immer schwieriger zu unterscheiden, was vertrauenswürdige, fundierte Informationen sind, was versteckte Werbung ist und wie wir in diesem Informationsüberfluss die richtigen Informationen herausfiltern, um wirklich unser Wissen zu vermehren, anstatt desinformiert zu werden und die Orientierung zu verlieren.

Experten- und Erfahrungswissen

Unsere Patientinnen und Patienten sind auf gut fundierte Informationen angewiesen, die ihnen auf eine kompetente und respektvolle Art und Weise übermittelt werden. So kann das Wissen um Krankheits-, aber auch um Genesungsprozesse gestärkt werden, was nachweislich zu einer besseren Gesundheit führt. Trotz der grossen Anzahl an Quellen fragen die meisten Patientinnen und Patienten an erster Stelle ihren behandelnden Arzt um Rat, auch wenn sie gleichzeitig andere Kanäle benutzen, um sich Wissen anzueignen. Für uns Ärztinnen und Ärzte ist es oft eine Herausforderung, Patienten bei der Suche nach Informationen und Wissen zu unterstützen, da wir nicht mehr einfach die Ratgeber sind, sondern Patientinnen und Patienten sich über verschiedene Quellen Wissen verschaffen. Geändert hat sich auch, dass der Arzt nicht mehr der allwissende Begleiter ist, sondern zunehmend bemüht sein sollte, vom Wissen des Patienten zu lernen. Pa­tienten und ihre Angehörigen verfügen oft über viel Wissen, persönliche Erfahrungen und Ideen, die uns medizinischen Experten fehlen. Dieser Austausch von Experten- und Erfahrungswissen erlaubt es, zu einem Wissensstand auf gleicher Augenhöhe zu kommen, was schlussendlich der persönlichen Bewältigung von Krankheit und Behandlung dient.

Von Patient zu Patient

Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Betroffene aus Gesprächen mit Fachpersonen nur gerade 40–45% der Informationen erfassen können. Studien zur Belastung der Angehörigen von psychisch Kranken zeigen, dass der grösste Belastungsfaktor, den 84% der Angehörigen nennen, Ängste und Sorgen sind, die von mangelnden Informationen herrühren. Folglich ist einer der vordringlichsten Wünsche, mehr Informationen und Gespräche angeboten zu bekommen. Dies hat insofern eine wesentliche Bedeutung, als gut 70% der pflegenden Angehörigen selbst erkranken, und zwar meist an Depressionen oder psychosomatischen Beschwerden. Chronisch Kranke, beeinträchtige Personen und ihre Angehörigen eignen sich über den Verlauf der Krankheit viel Fachwissen und Erfahrungen an und werden so selbst zu Experten über ihre Erkrankung und im Umgang damit. Dies führt zu einer vermehrten und erfolgreichen Informationsvermittlung und einem Wissensangebot von Patient zu Patient, was mit dem Peer-to-Peer-Ansatz oder dem Peer Councelling beschrieben wird. Der Vorteil dieses Ansatzes ist, dass Wissen aus persönlicher Erfahrung vermittelt werden kann, das nur Betroffene haben. Peers sind glaubwürdig, weil sie selber die Krankheit erlebt haben oder noch erleben. Bereits heute wird geschätzt, dass jeder fünfte Patient nach Unterstützung in Online-Communitys sucht. Selbsthilfegruppen wiederum vermitteln im gegenseitigen Austausch nicht nur Wissen, sondern auch Mut und Hoffnung.

Der Arzt als Kommunikator im Dilemma

Patientinnen und Patienten wollen Aspekte ihrer Krankheit und Entscheide über ihre Gesundheit vermehrt partizipativ mittragen, was bei der gleichzei­tigen Informationsflut zu einer Herausforderung werden kann. Oft gehen wir davon aus, dass alles klar ist, wenn ein Patient oder eine Patientin keine Fragen mehr stellt. Häufig fehlt Patientinnen und Patienten aber der Mut, gewisse Fragen zu stellen, oder sie haben das Gefühl, dass wir Ärztinnen und Ärzte keine Zeit hätten. Es stellen sich auch Fragen dazu, zu welchem Zeitpunkt eine Information oder Wissensvermittlung gefragt ist und wie wir unser medizinisches Wissen in einer Sprache vermitteln können, die der Patientin oder dem Patienten angemessen ist. Denken wir dabei z.B. an die Beipackzettel von Medikamenten oder an die Einverständniserklärungen zu Operationen, die oft mehrere Seiten umfassen und just in dem Moment unter­schrieben werden müssen, wenn der Patient sowieso schon mit Ängsten und Stress vor dem kom­menden Eingriff belastet ist. Wie können wir ältere Menschen mit kognitiven Einbussen so informieren, dass sie verstehen, wie es um sie steht, welche Be­handlung ihnen nützt und welches Vorgehen vielleicht eher zu unterlassen ist? Wie können wir die wachsende Migrations­bevölkerung mit teilweise doch erheblichen Sprachschwierigkeiten begleiten? Wenn zu den sprachlichen Verständigungsproblemen noch kulturelle Unterschiede dazukommen, droht die Gefahr, dass wir uns missverstehen anstatt uns zu verstehen. Welche Übersetzungsmöglichkeiten gibt es in solchen Situationen, sei es durch Dolmetscher oder mit Hilfe der in verschiedenen Sprachen vorhandenen Broschüren und Infoblättern? Wie sollen wir informieren, wenn wir bei einem Patienten alle erdenklichen Untersuchungen durchgeführt haben und nichts finden: Sie haben nichts, es sind nur die Nerven? Und schliesslich: Wie gehen wir damit um, wenn wir als Ärztinnen und Ärzte eine Frage eben gerade nicht beantworten können, was ja trotz allem Fortschritt in der Medizin doch recht häufig passiert?
Wissensvermittlung ist oft nicht nur schwierig, sondern manchmal auch für uns Ärztinnen und Ärzte unangenehm und belastend. Wir alle kennen wohl die Situa­tion, wenn wir zu Botschaftern des «Unglücks» werden. Einen Menschen mit drohendem Krebsverdacht zu informieren und seine Angehörigen miteinzubeziehen ist belastend, braucht Zeit und ein Abwägen, wann, wie und was berichte ich, so dass es für den Patienten und seine Angehörigen wirklich auch hilfreich ist. Schwierig und nicht nur mit einem einzelnen Gespräch, sondern mit viel Geduld verbunden ist die Wissensvermittlung oft auch bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen wie Psychosen oder Borderline-Störungen, bei schweren und chronisch verlaufenden Krankheiten wie etwa Diabetes oder Krankheiten mit Schmerzen. Gerade bei schwierigen Krankheitsverläufen sind gute Information und Wissensvermittlung der Garant dafür, dass Betroffene Behandlungsvorschläge befolgen und durchstehen können, das heisst Adhärenz zeigen. Und wie steht es mit unserer persönlichen Kränkung, wenn unser Patient Rat bei einem anderen Kollegen im Sinne einer second opinion holt und es nicht wagt, uns davon zu berichten? Und wie halten wir Patienten und Angehörige aus, die immer alles besser wissen?

Respekt und gleiche Augenhöhe

Wenn im Titel dieses Beitrags steht, dass Wissen unsere Patienten in ihrer Gesundheit stärkt, könnten wir nun anfügen, dass der Wissensaustausch zwischen Patient und Arzt beide in ihrer Kompetenz stärkt. Nicht nur wir Ärztinnen und Ärzte können dem Patienten Wissen beibringen, vielmehr kann der Patient auch uns mit seinem eigenen Wissen bereichern. Es geht nicht einfach um Wissensvermittlung, sondern um einen respektvollen Wissensaustausch. Dazu braucht es geduldiges Zuhören, Zeit und immer wiederkehrende Angebote zum Austausch. Damit ein solcher Prozess in Gang kommen kann, sind Vertrauen und Respekt die Grundvoraussetzung. Unter solchen Prämissen sind nicht nur wir Ärztinnen und Ärzte Experten für Krankheiten und Gesundheit, sondern Patienten und Angehörige sind ebenso Experten ihres Leidens und ihres Genesungsprozesses.
«Der Tag des Kranken» ist ein gemeinnütziger Verein, der 1939 gegründet wurde. Er besteht aus verschiedenen Mitgliedern, so auch der FMH, die im Vorstand des Vereins das Vizepräsidium einnimmt. Der Tag des Kranken findet jeweils Anfang März statt (3.3.2019). Im Jahr 2018 übernahm Frau Doris Fischer Deschler die Präsidentschaft vom langjährigen Präsidenten Veio Zanolini aus Minusio.
Dr. med. Hans Kurt
Facharzt für Psychiatrie
und Psychotherapie
Bielstrasse 109
CH-4500 Solothurn
kurt[at]solnet.ch