Die Ärzteschaft steht vor neuen Herausforderungen – ist sie für die Zukunft gerüstet?

Wie Ärztinnen und Ärzte im 21.Jahrhundert erfolgreich sein können

Tribüne
Ausgabe
2019/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17634
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(12):435-438

Affiliations
a Dr. med. Facharzt Innere Medizin, eMBA, Gümmenen, Schweiz; b MA, CEOEQ-EL, Israel

Publiziert am 20.03.2019

Die Ausübung des Arztberufes wird durch verschiedene Veränderungen im Arbeitsumfeld zunehmend auf die Probe gestellt. Dabei geht es nicht allein um die Auswirkungen moderner Technologien, die Fülle von Informa­tionen, die Erwartungen der Regulatoren oder den ökonomischen Druck, welche die tägliche Arbeit des Arztes verändern. Wir beobachten auch, dass es der hochqualifizierten, intelligenten Fachkraft, welche sich verantwortlich fühlt für die gute Versorgung des Patienten, oft an Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen eines funktionierenden Behandlungsteams sowie den subjektiven Umständen des Patienten fehlt. Wenn wir dieser Beobachtung die Tatsache beifügen, dass die neue Generation von Ärztinnen und Ärzten eine gegenüber ihren Vor­gängern deutlich andere Lebensweise und Einstellung zur Arbeit aufweist, dann kommen wir zum Schluss, dass im 21. Jahrhundert neue Qualitäten für die Ausübung des Arztberufs gefordert sind.

Einleitung

Das Medizinstudium stellt hohe Anforderungen an die Studierenden, welche sich durch hohe Intelligenz das methodisch-analytische Wissen anzueignen haben, das für die hohe Qualität der medizinischen Ver­sorgung in den entwickelten Ländern seit langem als ­zentral erachtet wird. Wir gehen davon aus, dass im veränderten Umfeld weitere Qualitäten notwendig sind: Die Menschen erwarten einfühlsame, professionelle, hochwertige, innovative und gezielte Behandlung. Dazu ist es notwendig, dass der Arzt fähig ist, ein multidisziplinäres und interprofessionelles Team zu führen [1], Behandlungen zu koordinieren, Verhaltensänderungen sowohl bei Patienten wie Kollegen her-beizuführen und die tiefer liegenden Bedürfnisse des ­Patienten erkennen zu können. Mit anderen ­Worten: Heute ist ein Arzt erfolgreich, wenn er sowohl einen entsprechenden IQ wie auch einen hohen EQ aufweist.
Auch in der Wirtschaft wird auf das sich verändernde Umfeld reagiert. Dies ist u.a. daran erkennbar, dass den Führungsqualitäten, der Kooperation und dem gegenseitigen Verständnis grössere Bedeutung beigemessen wird. Es gibt zahlreiche Studien und Publikationen zu Warum und Wie der offensichtlichen Veränderungen am Arbeitsplatz [2]. In der Welt der Medizin beginnt man erst langsam zu realisieren, dass kognitive Fähigkeiten nicht ausreichen, um auch im 21. Jahrhundert erfolgreich zu sein [3]. Wir möchten einige der Gründe aufzeigen, welche hinter dieser Diskrepanz gegenüber der übrigen Arbeitswelt stehen. Ausserdem möchten wir eine Übersicht geben über das, was heute bezüglich der ergänzenden Fähigkeiten bekannt ist, welche für die erfolgreiche Arbeit als Arzt zunehmend wichtig werden.

Résumé

Alors que leur environnement de travail a évolué, la manière dont les médecins travaillent ainsi que la perception qu’ils ont de leur profession sont restées les mêmes. La littérature généraliste sur le management énumère et décrit les facteurs aujourd’hui nécessaires au succès en tant que leader ou entrepreneur. Nous sommes convaincus que ces facteurs sont également pertinents pour les médecins. Nous donnons un bref sommaire de ces facteurs et les regroupons en cinq dimensions: une façon de penser qui cherche à se développer de manière continue; la prise en compte d’aspects de l’hémisphère gauche dans la communication interpersonnelle; l’intelligence émotionnelle; la durabilité; la capacité et la volonté du médecin de prendre la décision de se développer dans les 4 premières dimensions. Des études ont démontré que les médecins se classent en-dessous de la moyenne dans les dimensions évoquées ci-dessus. Ces résultats prouvent qu’il est important de se pencher sur ces facteurs de réussite dans le monde du travail du XXIe siècle.

Das traditionelle Selbstverständnis überwinden

Das traditionelle Selbstverständnis des Arztes umfasst u.a. den Anspruch auf Autonomie und Selbstregulierung, verbunden mit dem Vertrauensprinzip. Als Arzt ist man in einem freien Beruf tätig, den man mit dem Nachweis der erforderlichen Qualifikationen und Erfahrungen antreten darf. Die Gesellschaft vertraut dar­auf, dass der Arzt jedem Patienten die best-mögliche Behandlung zukommen lässt, und ist bereit, den Preis dafür zu bezahlen. Aus rechtlicher Perspektive betrachtet, arbeiten alle weiteren Gesundheitsfachper­sonen in Delegation, womit die abschliessende Verantwortung beim Arzt bleibt.
Diese Sichtweise (und Haltung) bestimmt weiterhin zu grossen Teilen die Ausübung unseres Berufes. Damit bleibt der Fokus auf dem Arzt, welcher die Diagnose stellt, Verordnungen schreibt und Operationen durchführt. Der Patient ist der Empfänger der Leistungen, und Gesundheitsfachpersonen sind die Unterstützer in der Leistungserbringung. Allerdings sind die ­Patienten heute besser informiert und erwarten, dass sie (an)gehört und auf Augenhöhe behandelt werden. Die Gesundheitsfachpersonen sind selbstbewusster und weniger bereit, bloss Verordnungen auszuführen. Wenn wir uns dazu noch der Tatsache bewusst werden, dass viele Patienten, die wir behandeln, an multiplen Krankheiten leiden und damit mehrere Parteien in der Betreuung involviert sind, so stellen wir fest, dass wir Ärzte zunehmend von einer funktionierenden ­Zusammenarbeit abhängig sind, nicht nur mit Kollegen, sondern auch mit den verschiedenen Gesundheitsfachpersonen. Der Held, welcher alles weiss und kann, ist am Aussterben!

Die neue Wirklichkeit anerkennen

Die veränderten Rahmenbedingungen in der Ausübung des Arztberufs verlangen nach einem Para­digmenwechsel. Aus- und Weiterbildung des Arztes müssen ergänzt und angepasst werden, und zwar über die ganze Zeit der beruflichen Laufbahn. Mit Hilfe von über 200 Ärzten in 5 Spitälern der Medizinischen Fakul­tät Technion/Israel wurde ein Modell entwickelt, welches erlauben soll, die neuen Bedürfnisse und Ansprüche an Ärzte zu formulieren und zu vermitteln. Bei der Erarbeitung dieses «Fünf-Länder-Modells» ­haben auch CEOs, Experten der Pädagogik und der ­Entwicklung des künftigen Arbeitsumfeldes mitgewirkt.

Der Weg zum Erfolg im 21. Jahrhundert – das «Fünf-Länder-Modell»

Um für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ­gerüstet zu sein, haben wir Ärzte uns auf einen Weg zu begeben, auf welchem wir uns erweiterte Quali­täten aneignen. Metaphorisch können wir von einem Weg durch fünf Länder sprechen. Zu diesem Thema gibt es zahlreiche Publikationen, die jedoch unter ­Ärzten kaum bekannt sind. Zunächst gilt es, sich auf ­lebenslanges Lernen auch in Bereichen ausserhalb des medizinischen Wissens einzulassen. Dazu ist eine veränderte Denkweise unabdingbar, welche als «Entwicklungsorientiertheit» («Growth Mindset») beschrieben wurde und sich von der «Unelastischen Denkweise» («Fixed Mindset») unterscheidet. Letztere beschreibt eine Haltung, bei welcher Erfolg als Beweis für Intelligenz und Begabung gesehen wird, während Fehler Ausdruck von Inkompetenz sind. Entwicklungsorientierung hingegen drückt sich im Willen zum kontinuierlichen Lernen – auch aus Fehlern – aus und in der Offenheit, sich darin von andern helfen zu lassen.
Zweitens geht es darum zu verstehen, dass Erfolg zunehmend davon abhängig ist, was Daniel Pink als ­«Gesamt-Hirn» («Whole Brain») beschrieben hat [4]. Pink unterstreicht damit die Bedeutung der Integration kreativ-intuitiver Aspekte in Denken und Handeln. Das logisch-lineare Denken greift zu kurz und bedarf der ergänzenden Interpretation von Sinnesdaten und Abstraktion. In der Geschäftswelt ist dies seit langem angekommen [5], und als Ärzte anerkennen wir, dass die Behandlung der Patienten einfühlsam sein soll und der psychosoziale Kontext zu berücksichtigen ist. Deshalb plädieren wir für eine medizinische Führerschaft, die über medizinisches Wissen und erprobte Professionalität hinausgeht. Eine Führerschaft mit professioneller Verantwortungsübernahme, Anteilnahme, Integrität, Geduld, Respekt gegenüber andern und dem Bewusstsein für den systemischen Kontext einer Behandlung. Wenn wir unseren Pa­tienten eine präzise, auf die Person zugeschnittene Behandlung bieten wollen, geht dies nur, wenn wir ein gesamtheitliches Denken pflegen – analytisch, rational, problemlösend, aber ebenso mit einer Sicht fürs Ganze, mit Kreativität und Fokussierung auf die Beziehungen in unserer täglichen Arbeit.
Das dritte Land heisst Emotionale Intelligenz. Sie kann in unserem Kontext nicht unerwähnt bleiben. Aus den verschiedenen Definitionen möchten wir diejenige von Mayer & Salovey (1997) [6] zitieren: «Emotionale Intelligenz ... ist die Fähigkeit, seine eigenen Gefühle wie auch diejenigen der andern wahrzunehmen, die beiden unterscheiden zu können und die gewonnene Information im Denken und Handeln zu nutzen» ­(eigene Übersetzung). Wir machen leider öfter die ­Beobachtung, dass es Ärzten an interpersonellen und kommunikativen Fähigkeiten fehlt, welche für einen bedeutsamen Informationsaustausch mit Patienten, ihren Familien und mit andern Gesundheitsfach­personen notwendig wären. Auch die interprofessionelle ­Zusammenarbeit bedarf der Weiterentwicklung. Sie ist von grösster Wichtigkeit zur Optimierung von Effi­zienz, Wirksamkeit und Sicherheit der Behand­lungen. Obwohl Emotionale Intelligenz offensichtlich notwendig ist für eine gelingende Interaktion mit Patien­ten und Gesundheitsfachpersonen, ist sie meist nicht Bestandteil des Curriculums für Ärzte. Dies mag im Glauben begründet sein, dass die geforderten Fähig­keiten angeboren sind und nicht erlernt werden können – ganz im Sinne des erwähnten «Fixed Mindset».
Den vierten Entwicklungsbereich für Ärzte nennen wir Nachhaltigkeit. Er wurde von Barsh & Cranston (2009) [7] beschrieben und umfasst fünf Dimensionen, die Führungskräfte und Fachpersonen in der Führung von sich selbst und andern, und in der Zielerreichung im dynamischen und komplexen Umfeld des 21. Jahrhunderts, unterstützen. Erstens sind heute Sinnhaf­tigkeit und ein höheres Ziel zen­trale Motivatoren für Mitarbeitende. Die zweite Dimension ist Wohl­befinden – Ärzte werden sich künftig um ihre mentale, emotionale, physische und spirituelle Gesundheit kümmern müssen. Drittens benötigen wir die Fähigkeit zu Optimismus und positiver Rahmung («Positive Framing»), um in einem sich ständig ändernden Umfeld mit zahlreichen Hindernissen bestehen zu können. Viertens geht es um die pro-­aktive Gestaltung der Berufskarriere und die Ent­wicklung künftig notwendiger Fähigkeiten in so unterschiedlichen Gebieten wie Technologie, Leadership, Soft Skills und Innovation. Und schliesslich müssen Ärzte ins sogenannte Sozialkapital investieren: in den Aufbau komplexer Beziehungsnetzwerke, welche ihren persönlichen Einfluss erhöhen und die Weiterentwicklung fördern.
Das fünfte Land nennen wir «I-21-Land», eine Bezeichnung für «Ich und das 21. Jahrhundert». Es symbolisiert die Fähigkeit des Arztes, Neuland zu schaffen – sich selbst wieder und wieder zu erfinden, indem er die ­Fähigkeiten und Kompetenzen nutzt, welche er sich auf dem Weg durch die andern vier Länder angeeignet hat.
Die verschiedenen Aspekte erfolgreicher Leadership im 21. Jahrhundert im Bereich der Medizin, die wir hier vorgestellt haben, sind nicht einfach zu entwickeln, umso mehr als das aktuelle Arbeitsumfeld nach wie vor geprägt ist durch traditionelle Haltungen und Denkweisen. Trotzdem möchten wir die Ärzteschaft herausfordern, über die Bedeutung der hier aufgeführten Entwicklungsnotwendigkeiten nachzudenken und sich auf den Weg zu begeben, um zu dem Arzt zu werden, der im aktuellen Umfeld – dem 21. Jahrhundert – erfolgreich ist und bleibt [8].
Abbildung 1: Grafische Darstellung des 5-Länder-Modells mit Kurzbeschreibungen (nach Reuven-Lelong [8]).

Die aktuelle Situation der Ärzte in ­Bezug auf die fünf Länder

Im Rahmen des Programms «Becoming the Doctor of Tomorrow» verwenden wir einen validierten Frage­bogen zur Quantifizierung der aktuell vorliegenden Fähigkeiten der Ärzte in Bezug auf die Dimensionen des Fünf-Länder-Modells. Die Auswertung der Daten der letzten fünf Jahre macht deutlich, dass Ärzte mehr Zeit und Energie in die Entwicklung der Fähigkeiten ­investieren müssen, die wir hier beschrieben haben. In einem der Programme mit Ärzten verschiedener ­Spitäler, welche ausserdem als Ausbildner von Studenten ­tätig sind, haben wir u.a. Folgendes erhoben.
– Denkweise: Ärzte weisen eine vergleichsweise höhere Neigung zu «Unelastischer Denkweise» auf – was mit der Haltung verbunden ist zu glauben, dass Fähigkeiten und Eigenschaften vorgegeben und unveränderlich sind (z.B. «Das ist mein Charakter, und so bleibt es»). Diese Haltung ist für eine persönliche Weiterentwicklung hinderlich. Menschen verlassen nicht gerne ihre Komfortzone und scheuen das Risiko, dass ein Unvermögen sichtbar werden könnte.
– Kunstgenieure: Ärzte sind überproportional links-hemisphärische Denker (Betonung von Aufgabe, Methodik, Prozess, analytisch-linearem Denken) und weniger kreativ, integrativ, visionär und ganzheitlich denkend.
– Emotionale Intelligenz: In einigen Dimensionen Emotionaler Intelligenz weisen Ärzte gegenüber der Normalpopulation höhere Werte auf, so bezüglich Stresstoleranz und Empathie. Unterdurchschnittlich schneiden sie jedoch in folgenden Bereichen ab: emotionale Selbstwahrnehmung, Selbstregulation und Bestimmtheit.
– Nachhaltigkeit: In diesem Bereich schneiden Ärzte überwiegend durchschnittlich ab. Höhere Werte werden für Höheres Ziel erreicht, hingegen tiefere Werte für Optimismus und Positive Rahmung.

Zusammenfassung

Während das Umfeld sich stark verändert, sind die Selbstwahrnehmung der Ärzte und ihre Arbeitsweise seit Jahrzehnten unverändert geblieben. Es ist an der Zeit, sich Gedanken zu machen, welche Fähigkeiten gefragt sind, um auch in Zukunft in der Medizin erfolgreich zu sein, und im Speziellen wie ärztliche Führerschaft im aktuellen Kontext aussehen muss. Neue Fähigkeiten und Haltungen, welche nicht klassischerweise an den medizinischen Fakultäten gelehrt wurden, sind zu ent­wickeln. Wir haben sie hier in einer Übersicht dargestellt und hoffen, dass diese das Interesse der Ärzteschaft zu wecken vermag.
Stefan Grunder erklärt, dass bei ihm im Zusammenhang mit der in diesem Artikel behandelten Thematik keine Interessenkonflikte ­bestehen.
Ayalla Reuven-Lelong ist CEO einer Consulting-Firma in Israel, die mit dem Fünf-Länder-Modell arbeitet.
Dr. med. Stefan Grunder, eMBA
Facharzt Innere Medizin
Stockernweg 2
CH-3205 Gümmenen
st.grunder[at]posteo.ch
1 Gerber M, Kraft E, Bosshard C. Interprofessionelle Zusammen­arbeit aus Qualitätssicht. SÄZ. 2016;99(44):1524–9.
2 Keller S, Price C. Beyond Performance: How Great Organizations Build Ultimate Competitive Advantage. John Wiley & Sons, 2011.
3 Emanuel EJ, Gudbranson E. Does Medicine Overemphasize IQ? JAMA. 2018;320(2):651–2.
4 Pink DH. A Whole New Mind: Moving from the Information Age to the Conceptual Age. Riverhead Books; 1st edition, 2005.
5 Herrmann N, Herrmann-Nehdi A. The Whole Brain Business Book, Second Edition: Unlocking the Power of Whole Brain Thinking in Organizations, Teams, and Individuals. McGraw-Hill Education; 2nd edition 2015.
6 Mayer JD, Salovey P. “What is Emotional Intelligence?” In Salovey P and Sluyter D (Eds). Emotional development and emotional intelligence: Implications for educators (pp. 3–31). New York: BasicBooks; 1997.
Salovey P, Mayer JD, Caruso DR. Mayer-Salovey-Caruso Emotional Intelligence Test (MSCEIT). Multi-Health Systems, 2002.
7 Barsh J, Cranston S. The value of centered leadership. McKinsey Global Survey results 2009.
Barsh J, Lavoie J. Centered Leadership: A Field Guide for Leading with Positive Impact and Resilience. Crown Business 2014.
8 Reuven-Lelong A. Becoming The Physician Of Tomorrow – A Five-Lands Journey To Success. 2017.