Vorauseilender Gehorsam ist nicht gerechtfertigt

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2019/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17635
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(09):297

Publiziert am 27.02.2019

Vorauseilender Gehorsam ist nicht ­gerechtfertigt

Das Bundesgericht hat in den letzten Jahren seine eigene Praxis in mehreren Urteilen grundlegend revidiert, was aus psychiatrischer Sicht mehr als zu begrüssen ist. Das zeigt auch, dass wir uns in der Begutachtung auf die Frage der Diagnose und deren Auswirkungen in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit zu konzentrieren haben und nicht schon im vorauseilenden Gehorsam mit Formulierungen, dass etwas aus versicherungsmedizinischer Sicht so oder so sei, uns selber zensieren. Was soll man all den Patienten sagen, denen Gutachter bei einer mittelgradigen Depression per se max. 50% AF attestiert haben, entgegen jedes klinischen Wissens, dass die Diagnose noch gar nichts über allfällige Einschränkungen oder Auswirkungen sagt, genauso wie die Gutachter, die es sich immer schon einfach gemacht haben und bei Schmerzstörungen gar nicht weiter gedacht haben und der Einfachheit halber eine volle AF angenommen haben. Genau gleich verhält es sich mit den psychosozialen Faktoren. Nur weil das im Gesetz nicht vorgesehen ist, heisst es nicht, dass sie klinisch nicht relevant sein können. Wenn der Rechtsanwender das dann herausdefiniert, ist es seine Sache und nicht Sache der Ärzte. Nur indem auf diese Dinge weiter hingewiesen wird, kann es auch zu einer Praxisänderung beim Bundesgericht kommen. Wir sind als Sachverständige gefordert, das heisst, der fachärztliche Sachverstand muss dargelegt werden und nicht was wir denken, die Juristen brauchen es. Das ist deren Sachverstand. Aktuell heisst das z.B., dass die Frage nach Therapieoptionen differenziert diskutiert werden sollte. Ein stationärer Aufenthalt kann auch schädigen. Mittelschwere Depressionen können genauso gut auch ohne Medikation behandelt werden. Ich bin der Meinung, dass alle, die gutachterlich tätig sind, auch mindestens 40–50% klinisch tätig sein sollten, um den Kontakt zu den Patienten und dem, was realistisch machbar ist, nicht zu verlieren. Auch im gutachterlichen Prozess gilt die Maxime: nihil nocere, was nicht bedeutet, dass die Patienten immer Recht haben.