Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission der SAMW

Finanzierung medizinischer Leistungen im Gefängnis

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Ausgabe
2019/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17652
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(10):328-329

Publiziert am 06.03.2019

Die Konferenzen der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD), der Kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK) sowie die Geschäftsleitung der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) schlagen vor, dass Gesundheitskosten im Justizvollzug [1] nicht mehr als Vollzugskosten bzw. als Vollzugsnebenkosten vom Staat finanziert, sondern als persönliche Auslagen in erster Linie von der inhaftierten Person selbst getragen werden müssen [2]. Das Ostschweizer und das Nordwest- und Innerschweizer Strafvollzugskonkordat sehen vor, dass ­Sozialversicherungsbeiträge und durch die Krankenkasse nicht gedeckte Gesundheitskosten, soweit möglich und zumutbar, zu Lasten der eingewiesenen Person ­gehen [3]. Das lateinische Konkordat auferlegt der ­inhaftierten Person die Behandlungskosten, wenn sie aufgrund ihrer Vermögenslage oder ihres Arbeits­einkommens dazu in der Lage ist [4].
Die Zentrale Ethikkommission (ZEK) der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) beobachtet diese Entwicklung mit Sorge. In ­ihren Richtlinien zur Ausübung der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen [5] weist die SAMW darauf hin, dass inhaftierte Personen Anrecht auf eine ­Gesundheitsversorgung haben, die jener der Allgemeinbevölkerung entspricht. In Bezug auf die Finanzierung dieser Leistungen sind aus Sicht der ZEK die folgenden fünf Punkte zu beachten:
1. Die Gesundheitsversorgung [6] im Freiheitsentzug ist nicht nur von zentraler Bedeutung für die inhaftierte Person selbst, sondern auch für Personen, die mit ihr Kontakt haben sowie für die Allgemein­bevölkerung.
2. Der Staat hat gegenüber inhaftierten Personen eine besondere Fürsorgepflicht. Er muss deren ausreichende Gesundheitsversorgung sicherstellen. Dabei muss er die hohe Morbidität in Anstalten und die spezifischen Gesundheitsbedürfnisse der Betroffenen berücksichtigen.
3. Inhaftierte Personen haben Anspruch auf eine Gesundheitsversorgung, die jener der Allgemein­bevölkerung gleichwertig ist. Dies gilt für alle inhaftierten Personen, unabhängig von Nationalität und Aufenthaltsstatus.
4. Inhaftierte Personen haben Anspruch auf jene Behandlung, die aus fachlicher Sicht erforderlich ist. Der medizinische Entscheid muss respektiert werden.
5. Die Gesundheitsversorgung muss für die inhaftierte Person niederschwellig zugänglich und grundsätzlich kostenfrei sein. Nur in Ausnahme­fällenkanneine angemessene Kostenbeteiligung verlangt werden.

1. Die Gesundheitsversorgung im Freiheitsentzug ist nicht nur von zentraler Bedeutung für die inhaftierte Person selbst, sondern auch für Personen, die mit ihr Kontakt haben und für die Bevölkerung insgesamt.

Inhaftierte Personen sind im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung häufiger von Krankheit betroffen; oft handelt es sich um ansteckende Erkrankungen [7]. Die hohe Konzentration an gesundheitlichen Belastungen und hohe Belegungsquoten führen dazu, dass das ­Gefängnis per se ein belastendes Umfeld ist. Dies stellt nicht nur für die Personen im Freiheitsentzug, ­sondern auch für Drittpersonen ein gesundheitliches ­Risiko dar. Eine gute Gesundheitsversorgung schützt daher auch Mithäftlinge, Gefängnispersonal sowie ­Besucher und ist zudem im Interesse der Allgemein­bevölkerung, wenn die betroffene Person aus der Haft entlassen wird. Auch aus epidemiologischer Sicht drängt sich eine gute, niederschwellige Gesundheitsversorgung auf.
Bei Personen in Haft handelt es sich um eine vulnerable Patientengruppe, die im Freiheitsentzug (häufig erstmals) medizinisch erreicht werden kann. Mit einer guten Gesundheitsversorgung können Krankheiten erkannt und rechtzeitig behandelt werden. Damit kann das Risiko von Verschlechterungen des Gesundheitszustands und die Ansteckung weiterer Personen vermindert und zusätzliche Behandlungskosten vermieden werden.

2. Der Staat hat gegenüber inhaftierten Personen eine besondere Fürsorgepflicht. Er muss deren ausreichende Gesundheitsversorgung sicherstellen. Dabei gilt es, die hohe Morbidität in Anstalten und die spezifischen Gesundheitsbedürfnisse der Betroffenen zu berücksichtigen.

Der Staat hat eine besondere Fürsorgepflicht gegenüber inhaftierten Personen, da er ihnen die Freiheit entzieht. Er trägt in diesem Sonderstatusverhältnis die Verantwortung für Leben und Gesundheit der Be­troffenen und muss daher auch eine ausreichende ­Gesundheitsversorgung sicherstellen [8]. Studien zeigen, dass inhaftierte Personen nicht nur überdurchschnittlich von somatischen Krankheiten betroffen sind, ­sondern auch häufig unter psychischem Stress leiden [9].

3. Inhaftierte Personen haben Anspruch auf eine Gesundheitsversorgung, die jener der Allgemeinbevölkerung gleichwertig ist. Dies gilt für alle inhaftierten Personen, unabhängig von Nationalität und Aufenthaltsstatus.

Medizinische Leistungen in Haft müssen äquivalent sein zu denjenigen der Allgemeinbevölkerung in Freiheit [10]. Es darf keine Rolle spielen, ob die inhaftierte Person dem KVG unterstellt ist oder nicht [11]. Der Leistungskatalog gemäss KVG darf nicht unterschritten werden. Heute haben die Kantone unterschiedliche Systeme zur Kostenträgerschaft, was eine Ungleich­behandlung darstellen kann. Die ZEK empfiehlt, künftig alle inhaftierten Personen dem Krankenversicherungsobligatorium zu unterstellen.

4. Inhaftierte Personen haben Anspruch auf jene Behandlung, die aus fachlicher Sicht erforderlich ist. Der medizinische Entscheid muss respektiert werden.

Medizinische Entscheidungen, insbesondere Entscheidungen in Bezug auf die Notwendigkeit und Dring­lichkeit einer medizinischen Massnahme, müssen ­respektiert werden. Administrative Abklärungen (z.B. vorgängige Kostengutsprache) oder sicherheits­relevante Aspekte dürfen nicht dazu führen, dass eine medizinische Leistung, die gemäss Leistungskatalog KVG zur Verfügung steht, unterbleibt oder mit Verzögerung durchgeführt wird.

5. Die Gesundheitsversorgung muss für die inhaftierten Personen niederschwellig zugänglich und grundsätzlich kostenfrei sein. Nur in Ausnahmefällen kann eine angemessene Kostenbeteiligung verlangt werden.

Studien zeigen, dass inhaftierte Personen teilweise ­zurückhaltend darin sind, medizinische Leistungen in Anspruch zu nehmen (z.B. aus Angst vor negativen Folgen einer Konsultation) [12]. Kommt als weitere Hürde hinzu, dass sie Kostenbeiträge bezahlen müssen, kann dies dazu führen, dass sie notwendige Behandlungen nicht in Anspruch nehmen.
Doch die Inanspruchnahme von medizinisch notwendigen präventiven, diagnostischen und therapeutischen Massnahmen liegt, wie dargelegt, nicht nur im Interesse der inhaftierten Personen, sondern auch im Interesse der Allgemeinheit (vgl. Punkt 1) [13]. Hürden, die dazu führen, dass Gesundheitsleistungen nicht in Anspruch genommen werden, sind daher nicht sinnvoll. Die ZEK fordert, dass die Gesundheitsversorgung für die inhaftierte Person grundsätzlich kostenfrei sein soll [14]. Nur in Ausnahmefällen, wenn ein er­hebliches Einkommen und/oder hohes Vermögen ­vor­handen ist, soll eine angemessene Kostenbeteiligung verlangt werden können. Für die Beurteilung, ob dies zutrifft, könnten als Orientierungspunkt die SKOS-Richtlinien betreffend Verwandtenunterstützungspflicht dienen. Dass durch diese herabgesetzte finan­zielle Eigenverantwortung die inhaftierte Person womöglich bessergestellt wird als die nicht inhaftierte Person, ist aufgrund der erwähnten besonderen Schutz- und Fürsorgepflichten des Staates gegenüber Menschen im Freiheitsentzug hinzunehmen.
Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission (ZEK) der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Bern, 15. Februar 2019.
– Genehmigt vom Vorstand der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Bern, 22. Februar 2019.
– Unterstützt vom Zentralvorstand der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH). Bern, ­13. Februar 2019.
– Unterstützt vom Vorstand der Konferenz Schweizerischer Gefängnisärzte (KSG). 28. Februar 2019.
lic. iur.
Michelle Salathé MAE,
Leiterin Ressort Ethik und Stv. Generalsekretärin SAMW
m.salathe[at]samw.ch
 1 Als Gesundheitskosten gelten namentlich Kosten für Kranken­versicherungsprämien sowie Kostenbeteiligungen wie Franchise, Selbstbehalt, Spitalbeitrag.
 2 Vgl. Schlussbericht der AG zu Handen der KKJPD, SODK und SKOS «Schnittstelle Justizvollzug – Sozialhilfe».
 3 Vgl. Art. 14 lit. c OS-K sowie Art. 19 Abs. 1 lit. d und e NIS-K.
 4 Art. 24 Abs. 4 LS-K. Décision de la Conférence latine des autorités cantonales compétentes en matière d’exécution des peines et des mesures (la Conférence) du 8 novembre 2018 fixant les règles de la participation des personnes détenues aux frais médicaux ­(Décision sur les frais médicaux).
 5 Vgl. «Ausübung der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten ­Personen». Medizin-ethische Richtlinien der SAMW (2002, ­aktualisiert 2013).
 6 Gesundheitsversorgung umfasst alle Massnahmen, die die Gesundheit erhalten, verbessern oder Krankheiten verhindern.
 7 Vgl. Vademekum: Übertragbare Krankheiten und Abhängigkeiten im Gefängnis vom 1.10.2012 (www.bag.admin.ch); vgl. Wolff H, Sebo P, Haller DM, Eytan A, Niveau G, Bertrand D, Gétaz L, Cerutti B: ICPC-coded health problems of detainees in Switzerland’s largest remand prison. BMC Public Health 2011, 11:245; vgl. Moschetti K, Zabrodina V, Wangmo T, Holly A, Wasserfallen JB, Elger BS, Gravier B: The determinants of individual health care expenditures in prison: evidence from Switzerland. BMC Health Serv Res. 2018;18:160; vgl. Fazel S, Baillargeon J: The health of prisoners. Lancet 2011;377:956–65.
 8 Exemplarisch zu den kompensatorischen staatlichen Schutz- und Fürsorgepflichten bei Sonderstatusverhältnissen bzw. besonderen Rechtsverhältnissen: Müller M. Das besondere Rechtsverhältnis, Ein altes Rechtsinstitut neu gedacht, Bern 2003, S. 152. Auch der Bundesrat hat die besondere staatliche Fürsorgepflicht gegenüber inhaftierten Personen mehrfach bestätigt. Vgl. Interpellation ­Fehlmann Rielle, 16.3986, 13.12.2016, Stellungnahme des Bundesrats vom 22.02.2017; Interpellation Mazzone, 183129, 12.03.2018, Stellungnahme des Bundesrats vom 16.05.2018.
 9 Vgl. Fussnote 7 sowie Fazel S, et al. Mental health of prisoners: ­prevalence, adverse outcomes, and interventions. The Lancet. ­Psychiatry 2016;3(9):871–81.
10 Vgl. Fussnote 8.
11 Vgl. Stellungnahme des Bundesrates vom 15.6.2018 zur Interpellation Flückiger-Bäni (18.3655), worin der Bundesrat festhält, dass alle inhaftierten Personen, Inhaftierte mit Wohnsitz im Ausland ­eingeschlossen, Anspruch auf eine einwandfreie medizinische Versorgung haben, unabhängig davon, wie die entsprechenden Leistungen finanziert werden.
12 Vgl. z.B. Heidari R, Wangmo T, Galli S, Shaw DM, Elger BS: Agequake group. Accessibility of prison healthcare for elderly inmates, a ­qualitative assessment. Forensic Leg Med 52 (Nov 2017): 223–8.
13 Der Bundesrat teilt diese Ansicht: «Es deckt sich mit dem Interesse der öffentlichen Gesundheit, allen inhaftierten Personen Zugang zur medizinischen Versorgung (..) zu gewährleisten (..).». Vgl. ­Fussnote 11.
14 Diese Forderung entspricht auch internationalen Empfehlungen und Leitlinien. Vgl. z.B. United Nations. UN Standard Minimum Rules for the Treatment of Prisoners (Nelson Mandela Rules), adopted by the UN General Assembly on 29 September 2015: Rule 24.1 «The provision of health care for prisoners is a State responsibility. Prisoners should enjoy the same standards of health care that are available in the community, and should have access to necessary health-care services free of charge without discrimination on the grounds of their legal status». www.unodc.org/documents/justice-and-prison-reform/GA-RESOLUTION/E_ebook.pdf