Die Panazee

Horizonte
Ausgabe
2019/13
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17654
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(13):489

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 26.03.2019

Ein mythisches Universalmittel gegen Altern und Krankheiten, am besten vom eigenen Leib. Mit dem Armesünderfett und dem Schelmenfleisch ist es vorbei, geblieben ist der Wunsch. Ein Softkannibalismus, der Volksmedizin und moderne Wissenschaft zusammenbringt. Urin ist ein gutes Beispiel, denn in allen Kulturen werden ein bis zwei Gläser Eigenurin täglich empfohlen. Kamelharn gilt im Nahen Osten als be­sonders wirksam, in China helfen in Knabenurin gekochte Eier. Wenn menschliche Feten im eigenen Urin schwimmen, können lebenslängliche Zugaben nur ­Gutes bewirken. Auf die Haut aufgetragen verjüngt es den Teint, von Migräne bis zu Arthrose hilft ein Schlückchen des selbst produzierten Wundersaftes, immerhin ein voller Tanklastwagen bis zum Lebensende. Das Labor hat sich der Ausscheidung angenommen. Aus den darin enthaltenen Körperzellen werden Stammzellen gezüchtet, die krankes Gewebe ersetzen sollen. Konkreter wird es beim Harnstoff als Grundsubstanz für Kosmetika, Kunststoffe und Klebemittel. Düngemittel brauchen aus Kläranlagen rezyklierten Phosphor. Urin dient auch als Energiequelle ausserhalb unseres Körpers. Einmal vom Ammoniak getrennt soll daraus gewonnener Wasserstoff das Erdöl ersetzen, ­Hydrazin aus Harnbakterien wird zum Treibstoff für Raketen.
Geheimnisvoller ist Menschenblut. Vampirnächte landauf und landab erinnern an die Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Ewige Jugend ist der Antrieb der Kultbälle mit Biss. Ein Gruseldekor mit leeren Särgen sorgt für die richtige Stimmung. Hinter der frivolen Maskerade steckt der Wunsch nach immerwährender Jugend durch die Einverleibung fremden Blutes. Um die Nabelschnur-Blutbanken ist es still geworden. In flüssigem Stickstoff gelagert sollen dereinst Stammzellen die Heilungschancen verbessern. Eine Art Lebensversicherung, die auf den medizinischen Fortschritt spekuliert. Vampire faszinieren nicht nur Teenies und Fasnachtfreaks, die mit Knoblauch beladen durch die Szene stolpern. Im Zürcher Triemlispital mussten sechzehn Probanden ihr eigenes Blut trinken. The Vampire Study misst die Konzentration von fäkalem Calprotectin, um chronisch-entzündliche Darmerkrankungen nachzuweisen. Die Ergebnisse scheinen nicht besonders ermutigend zu sein.
Das Verzehren von Artgenossen wird nur im äussersten Notfall toleriert. Der amerikanische Thriller Das Schweigen der Lämmer hat mit Hannibal Lecter einen kannibalistischen Psychiater erfunden, der es zu zwei Folgen und fünf Oscars schaffte. Ausnahmen gibt es immer. Etwa eine Fussballmannschaft, die in den ­Anden abstürzt. Idi Amin soll in seinen Tiefkühltruhen das Fleisch seiner portionierten Gegner gelagert haben. Solange der Zugang zu Ugandas Erdöl gesichert war, hat das keine europäische Regierung interessiert. Im konfuzianischen China sollen Kinder und Jugend­liche älteren Menschen einen Teil ihres Körpers, vorzugsweise ihre Schenkel, angeboten haben. Zum besseren Wohlbefinden. Der Respekt vor dem Alter war noch intakt. Die meisten weiblichen Säugetiere essen nach der Geburt ihre Plazenta. Für den Mutterkuchen als Wundermittel kursieren im Netz Rezepte. Promis ­empfehlen Lasagne, Globuli, Plazenta-Kapseln oder Smoothies. Sie sollen gegen die Wochenbettdepression und gegen Schmerzen helfen, das Immunsystem stärken und die Milchproduktion fördern. Noch macht die Wissenschaft um das Thema einen Bogen. Jonathan Swift, der englische Satiriker, schrieb 1729 A modest ­Proposal, eine Rezeptsammlung für die Zubereitung irischer Kinder zur Bekämpfung von Hungersnot und Überbevölkerung. Eine gezielte Provokation der englischen Oberschicht. Ein Jahr nach dem ersten Bericht des Club of Rome, Die Grenzen des Wachstums, wurde die erste Ökodystopie gedreht. Im Film Soylent Green wird die darbende Bevölkerung mit grünen Sticks, angeblich aus Plankton, ernährt. Die Weltmeere sind längstens sterile Wüsten. Was da aufgetischt wird, kommt aus geheimen Fabriken, die Verstorbene verarbeiten. Auch eine Art Panazee, wenn es nur noch um das Überleben geht.
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