Technologischer Solutionismus – wo bleibt der Nutzen?

FMH
Ausgabe
2019/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17657
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(10):323

Affiliations
Dr. med., Mitglied des FMH-Zentralvorstandes, Departement Digitalisierung / eHealth

Publiziert am 06.03.2019

Unter dem Begriff «technological solutionism» versteht man den Glauben, Probleme mit neuen Technologien schnell und einfach lösen zu können – einfach, weil der heutige technologische Stand es möglich macht. Laut Technologie-Kritiker Evgeny Morozov ist jedoch genau dieser technologische Lösungsansatz problematisch, da nicht jede noch so effiziente Technologie wirkliche Vorteile bringt [1]. Häufig versuchen Hersteller im Gesundheitsbereich, Probleme ausgehend von bestehenden Technologien zu finden und eine schnelle Lösung anzubieten. Sie bedienen sich low-hanging fruits, statt ihre Energie in Entwicklungen zu legen, welche Patienten mit komplexen Krankheitsbildern und teuren Behandlungen wirklich zugutekommen würden [2].
Aus Sicht der Ärzteschaft befinden wir uns momentan in einer Situation, in der digitale Technologien von der Politik (eHealth-Strategie 2.0) gefordert werden, ohne den konkreten Nutzen klar in den Vordergrund zu ­stellen. Zweifellos ist eine qualitativ hochstehende Gesundheitsversorgung, wie wir sie heute kennen, ohne Digitalisierung undenkbar. Zukünftige Diskussionen zu politischen Reformen, wie die Kopplung des elek­tronischen Patientendossiers (EPD) an die ärztliche Zulassung, müssen jedoch unbedingt auf die Schaffung eines Mehrnutzens fokussieren. Diesen Beweis muss das EPD zuerst erbringen. Stellt sich heraus, dass das heutige Konzept des elektronischen Patientendossiers von Patientenseite nicht nachgefragt wird oder für ­Gesundheitsfachleute unzweckmässig ist, würden sich gesetzliche Verpflichtungen als Innovationsbremse auswirken und die Behandlungsqualität negativ beeinflussen.
Fakt ist, dass in der Digitalisierung viel Potential liegt, sie aber in der Arztpraxis nur schleppend voranschreitet: Laut dem 2018 publizierten eHealth-Barometer führen erst die Hälfte der befragten Praxisärztinnen und -ärzte eine elektronische Krankengeschichte [3]. Gründe dafür gibt es verschiedene, wobei gerade der ungenügende Mehrnutzen als Hürde zur Digitalisierung gesehen wird [4]. Zudem wird die Ärzteschaft durch gesteigerte Anforderungen an die IT-Sicherheit, den Datenschutz oder die neuen Cloudlösungen stark gefordert. Es fehlen personelle und finanzielle Ressourcen, um die Transformation des Praxisalltags zu bewältigen. Das aktuelle Tarifsystem stammt aus der vordigitalen Zeit, und ausgebildete Medizininformatikerinnen mit universitärem Masterabschluss können an einer Hand abgezählt werden.
Die FMH hat sich zum Ziel gesetzt, die Ärzteschaft bei der digitalen Transformation mit nutzbringenden Projekten zu unterstützen. Das Departement Digitalisierung hat eine neue Strategie entwickelt, welche die Handlungsfelder der FMH im spezifischen Bereich der Praxisinformatik definiert. Damit führt die FMH die Arbeit des ehemaligen Instituts für Praxisinformatik (IPI) fort. Die neuen Ziele sehen vor, dass Orientierungshilfen zu nutzenstiftenden digitalen Möglich­keiten erarbeitet und die Interoperabilität von Praxisinformationssystemen gefördert werden. Weiter soll die Ärzteschaft über Informationsanlässe informiert und mittels praktischen Handlungsempfehlungen zu wichtigen Themen wie dem Datenschutz zur Digitalisierung befähigt werden. Unterstützt wird das Departement durch einen neu gegründeten «Lenkungsausschuss Praxisinformatik», in welchem in Ergänzung zur bestehenden Arbeitsgruppe eHealth Ärztinnen und Ärzte mit Praxis- sowie Spitaltätigkeit vertreten sind. Der Lenkungsausschuss reflektiert die Projekte kritisch und unterstützt Entscheidungen zuhanden des Zentralvorstandes.
Erfahrungen im Ausland zeigen, dass nutzenstiftende digitale Angebote nur unter Mitgestaltung der Gesundheitsfachleute erfolgreich umgesetzt werden können [5]. Die FMH trägt ihren Teil zu dieser Entwicklung bei – in politischen Themen erwarten wir im Gegenzug einen starken Einbezug der Ärzteschaft, um die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung voranzutreiben.
1 Morozov E. To Save Everything, Click Here: The Folly of Technological Solutionism. 2013.
2 Dorn SD. Digital Health: Hope, Hype, and Amara’s Law. Gastro­enterology (2015). doi:10.1053/j.gas­tro.2015.07.024.
3 Golder L, Jans C. Swiss eHealth Barometer 2018. 2018.
4 Röthlisberger F, Sojer R, Zingg T, Rayki O. Die Digitalisierung aus Ärztesicht (Teil II). Schweiz Ärzteztg. 2018;99(48):1686–9.
5 McLoughlin IP, Garrety K, Wilson R, Yu P, Dalley A. The Digitalization of Healthcare. Oxford University Press. 2017.