Warum deutsche Ärzte nach Glarus kommen – und bleiben

Glarus statt Deutschland

FMH
Ausgabe
2019/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17658
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(11):366-368

Affiliations
Redaktorin und Dienstchefin in der Redaktion Glarus, «Die Südostschweiz»

Publiziert am 13.03.2019

In Deutschland bedauert man die Abwanderung von Ärzten und Pflegern in die Schweiz. Der Gesundheitsminister Jens Spahn «möchte sie gern zurück». Hätte er damit Erfolg, wäre das auch für das Glarnerland fatal. Denn mittlerweile stammt rund ein Viertel der Ärzte im Kanton aus dem Nachbarland. Zwei deutsche Ärzte, die auch schlechte Arbeitsbedingungen in Deutschland ins Glarnerland geführt haben, warnen davor, dass die dortigen Verhältnisse auch in der Schweiz mehr und mehr Einzug halten.
Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will seine deutschen Ärzte zurück. Das sagt er in einem Interview mit dem SonntagsBlick. Denn die von Schweizer Spitälern und Heimen abgeworbenen deutschen Ärzte würden in Deutschland dringlich fehlen. «Bei uns arbeiten dann polnische Ärzte, die wiederum in Polen fehlen. Das kann so nicht richtig sein», findet der Minister.
Tatsächlich ist die Schweiz für deutsche Mediziner seit Jahren das mit Abstand beliebteste Auswandererland. Der Schweizer Ärzteverband (FMH) meldete Anfang 2017, dass 17,7 Prozent der hierzulande arbeitenden Ärzte einen deutschen Pass hätten.

Gesundheitssystem im Wandel

Das Glarnerland bildet da keine Ausnahme. Mehr als ein Viertel der im Kanton tätigen Ärzte kommt laut FMH aus Deutschland. Allein im Kantonsspital beträgt ihr Anteil zusammen mit dem dort tätigen deutschen Pflegepersonal rund 30 Prozent.
Während der deutsche Minister eine Neuregelung der Abwerbung von Fachleuten aus bestimmten Berufen anregt, denken viele Ärzte aber gar nicht daran, zurück nach Deutschland zu gehen. Zwar hat sich im dortigen Gesundheitssystem in den vergangenen Jahren bereits einiges verbessert. Dennoch gibt es immer noch viele Nachteile im Vergleich zur Schweiz. Welche das sind, berichten Yvonne Züst und Manuel Schumacher. Beide stammen aus Deutschland und sind als Hausärzte in der Molliser Praxis im Sonnenzentrum tätig.

Glarner Ärzte kommen aus Deutschland

Im Kanton Glarus sind laut dem Schweizer Ärzteverband (FMH) 104 Mediziner tätig (Zahlen von 2017). 40 davon sind Frauen, 64 Männer. 56 arbeiten im ambulanten (zum Beispiel Praxis), 48 im stationären Sektor (zum Beispiel Spital). Die Ärztedichte liegt im Glarnerland bei 388 Einwohnern pro Arzt. Von den 104 berufs­tätigen Ärzten haben etwa 30 Prozent ein ausländisches Ärzte­diplom. Der grösste Teil dieser Ärztinnen und Ärzte hat sein ­Diplom in Deutschland erworben (24 von 31). Und die Tendenz ist steigend. Die «Südostschweiz»-Recherche ergab, dass 2019 mindestens 27 Ärzte im Glarnerland aus Deutschland stammen.
In der ganzen Schweiz sind laut der FMH-Ärztestatistik 2017 36 900 Ärztinnen und Ärzte berufstätig. Die Anzahl der Mediziner sei in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen, und das Durchschnittsalter liege bei 49 Jahren. Gesamtschweizerisch liegt der Ausländeranteil bei den Ärzten bei 34 Prozent. Der Grossteil der ausländischen Ärzte stammt aus Deutschland (54 Prozent), gefolgt von Italien (9 Prozent), Frankreich (7 Prozent) und Österreich (6 Prozent). Die FMH meldete Anfang 2017, dass 17,7 Prozent der Schweizer Ärzte einen deutschen Pass hätten.
Markus Hauser, Direktor des Kantonsspitals Glarus, betrachtet die Misere in ­Deutschland als selbstgemacht – und sieht die Schweiz auf gutem Weg, Deutschland nachzueifern.
Frau Züst, Herr Schumacher, warum sind Sie ­ursprünglich in die Schweiz gekommen?
Yvonne Züst: Ich bin 2001 während meines Studiums in Deutschland zum ersten Mal in die Schweiz gekommen. Als Unterassistentin war ich je vier Monate in Glarus und in Basel. Die Schweiz war damals sehr ­beliebt bei den Studenten, weil man anders als in Deutschland Geld für seinen Einsatz im Spital bekommen hat. Nach dem Studium musste man dann damals noch 18 Monate als sogenannter Arzt im Praktikum (AIP) arbeiten, um seine Approbation zu erhalten. Mit kümmerlichem Lohn und schlechten Arbeitszeiten. Schon während des Studiums war für mich klar, das nicht zu unterstützen und fürs AIP ins Ausland zu gehen. Schweden und England waren neben der Schweiz noch im Rennen. Am Ende nahm ich dann die Stelle an, die mir der Chef der Chirurgie im Spital Glarus während meiner Zeit als Unterassistentin angeboten hatte.
Manuel Schumacher: Bei mir war es ähnlich. Ich bin 2010 als Unterassistent ans Kantonsspital gekommen und nach dem Studium zum zweiten Mal. Da ich in Freiburg im Breisgau studiert habe, war der Weg in die Schweiz ja nicht mehr so weit. Neben dem Finanziellen hat es mich aber auch gereizt, Erfahrungen im nahe gelegenen Ausland zu sammeln. Deshalb habe ich mich nach dem Studium in Österreich und in der Schweiz beworben. Am Ende habe ich wie meine Kollegin die Stelle angenommen, die mir bereits als Unterassistent in Glarus angeboten wurde.
Yvonne Züst und Manuel Schumacher, zwei von mindestens 27 deutschen Ärztinnen und Ärzten im Glarnerland, sind als Hausärzte tätig.
Und warum sind Sie dann im Glarnerland geblieben?
Züst: Ich habe hier meinen Mann kennengelernt und eine Familie gegründet. Aber auch sonst wäre ich damals wegen der schlechten Bedingungen im deutschen Gesundheitssystem wohl nicht zurückgegangen. Heute sieht das etwas anders aus. Die Bedingungen für Spitalärzte sind besser geworden. Und schaut man sich Verdienst und Arbeitszeiten an, gibt es keine gros­sen Unterschiede mehr. Wäre ich nicht privat gebunden, könnte ich mir heute durchaus vorstellen, als Ärztin in Deutschland zu arbeiten.
Schumacher: Ursprünglich wollte ich nicht dauerhaft auswandern. Doch dann ergab sich jeweils aus einer Stelle die nächste. Ich konnte vom Spital aus am ­Hausarztmodell teilnehmen, das mich zur Praxis von Yvonne und Peter Züst geführt hat. Sie haben mir dann angeboten, dass ich nach der Facharztprüfung bei ­ihnen einsteigen kann. Zwischenzeitlich lernte ich am Spital meine Frau kennen. Sie arbeitet dort als Pflegefachfrau und ist ebenfalls aus Deutschland. Mit der ­Familiengründung und den beruflichen Entwicklungen war Deutschland dann plötzlich gar keine Option mehr. Und das Glarnerland ist über die Zeit zu unserer Heimat geworden.
Sie sagen, in Deutschland seien die Verhältnisse im Gesundheitswesen in den letzten Jahren besser geworden. Wo sehen Sie trotzdem Vorteile in der Schweiz?
Züst: Da ich nie in Deutschland gearbeitet habe, kann ich nur vom Hörensagen berichten. Ein grosser Vorteil ist sicher, dass wir in der Schweiz noch kein Global­budget für Patienten haben, also keine Kostenobergrenzen. Wobei die Tendenz auch in der Schweiz in diese Richtung geht.
Inwiefern?
Züst: Bis 2017 konnten wir uns beispielsweise unlimitiert Zeit für einen Patienten nehmen und unsere Arbeit dann auch entsprechend abrechnen. Neu dürfen wir maximal 20 Minuten abrechnen, jede weitere Minu­te arbeiten wir gratis. Auch die Gesprächszeit mit Angehörigen oder Pflegepersonen in Altersheimen über die Patienten wurde halbiert. Neu haben wir dafür alle drei Monate eine halbe Stunde Zeit. Um die ­Gesundheitskosten zu senken, orientiert sich das ­Bundesamt für Gesundheit leider immer stärker an Deutschland. Das finde ich sehr schade. Denn am Ende leiden darunter die Patienten und Patientinnen, und auch die Ärzte zieht es dann vielleicht eher in andere Länder.
Wie reagieren Patienten auf die Änderungen?
Züst: Sie haben dafür weniger Verständnis, fallen aus allen Wolken. Da würde ich mir schon wünschen, dass sich die Patienten nicht nur die Krankenkassen­prämien anschauen, sondern sich auch über die geplanten Neuerungen im Gesundheitswesen informieren. Es sieht zwar für die Politiker erst mal gut aus, wenn die Prämien nicht steigen. Aber dafür wird bei den Ärzten immer mehr reglementiert und bürokratisiert. Und wenn man von uns immer mehr Sonder­leistungen verlangt, trägt das auch zur Verteuerung des Gesundheitswesens bei.
Schumacher: Das stimmt. Leider gibt es in der Schweiz immer mehr Bürokratie mit immer weniger erkenn­barem Sinn. Dabei müsste man aus den deutschen ­Fehlern lernen. Denn dort ist vor allem das Hausärztedasein in meinen Augen immer noch sehr unattraktiv.
Warum genau ist das so?
Schumacher: In der Schweiz kann man als Hausarzt noch sehr viel selber machen. Dem Patienten eine umfassende Betreuung bieten, selber Röntgen oder selber das Labor ausführen. Das ist in Deutschland anders. Da hat der Hausarzt mehr und mehr nur noch eine koordinierende Funktion. Er überweist die Patienten lediglich an die entsprechenden Fachärzte. Übrig bleibt ein Haufen Bürokratie und weniger medizinische Arbeit.
Deutsche (Ärzte) in der Schweiz berichten immer wieder auch von Ressentiments gegenüber ihrer Nationalität. Haben Sie das auch schon erlebt?
Züst: Nein. Glücklicherweise nicht.
Schumacher: Ich habe auch noch nie negative Rückmeldungen bekommen. Es kann natürlich sein, dass Leute, die mit der Nationalität ein Problem haben, erst gar nicht zu mir kommen. Das kann ich nicht ausschliessen. Aber grundsätzlich habe ich den Eindruck, dass die Leute froh über eine gute medizinische Versorgung sind. Und solange man sie mit ihren Problemen ernst nimmt, spielt die Nationalität wahrscheinlich keine grosse Rolle.
Züst: Ich kann mir vorstellen, dass das im Spital noch mal anders ist. Da kommt ja unter Umständen eine Unmenge an Deutschen beziehungsweise Ausländern auf die Patienten zu. Von der Schwester auf dem Notfall über den behandelnden Arzt bis zum Röntgenassistenten. Da ist es dann nachvollziehbar, dass sich die ­Patienten fragen: Wo bin ich hier jetzt? Das würde uns in Deutschland genauso gehen, wenn wir mehrheitlich von ausländischem Personal behandelt würden.
Schumacher: Vielleicht haben sich die Glarner Patienten mittlerweile aber auch schon an die Deutschen gewöhnt. Denn es ist ja schon länger ein Problem, die einheimischen Ärzte in die Bergkantone zu locken.
Haben es Ärzte in Deutschland denn auch irgendwo besser als in der Schweiz?
Schumacher: Mittlerweile kann man wohl sagen, dass die deutschen Kollegen in den Spitälern bessere Arbeitszeiten und mehr Freizeit haben. Denn seit das Arbeitszeitgesetz strenger umgesetzt wird, arbeiten sie weniger Stunden pro Woche als die Schweizer Kollegen und haben auch meines Wissens mehr Urlaubstage.

Bund investiert in Ausbildung der Ärzte

Die gute Nachricht: Die Gesamtzahl der Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz nimmt laut einer Statistik des Schweizerischen ­Ärzteverbands (FMH) zu. Die schlechte Nachricht: Aufgrund von Teilzeitarbeit führt dies nicht dazu, dass pro ärztliche Fachperson eine neue Vollzeitstelle entsteht. Ausserdem stammt jeder dritte Arzt in der Schweiz aus dem Ausland. Für eine Nachhaltigkeit der Patientenversorgung müsse die Schweiz in Zukunft mehr Medizinerinnen und Mediziner ausbilden, so die FMH. Deshalb unterstützt der Bund die Ärzteausbildung und investierte zusätzliche 100 Millionen Franken. Aktuell werden an zehn Universitäten Ärzte ausgebildet. Mit den vom Bundesrat beschlossenen Millionen soll bis 2025 die Anzahl der Abschlüsse in Humanmedizin von etwa 800 auf 1300 pro Jahr erhöht werden.

Vier Fragen an … Markus Hauser, ­Direktor des ­Kantonsspitals Glarus

1) Herr Hauser, der Anteil der deutschen Spitalmitarbeiterinnen und -mitarbeiter in Glarus liegt bei knapp 30 Prozent. Wo liegen für Sie die Vorteile?
Es handelt sich um gut ausgebildete Fachkräfte, die Deutsch sprechen. Sie sind nicht wegzudenken, da wir ansonsten den Bedarf an medizinischem Personal nicht decken könnten. Denn in der Schweiz wurden in der Vergangenheit zu wenig Ärzte ausgebildet.
2) Und die Nachteile? Ein kleiner Teil unserer Patienten würde sich als Ansprechpersonen vielleicht Schweizer wünschen, die Mundart sprechen. Deutsche Staatsangehörige brauchen manchmal auch etwas Zeit, um sich allgemein mit der Schweizer Kultur und im Speziellen mit der Unternehmenskultur zurechtzufinden.
3) Was macht die Schweiz für deutsche Fachkräfte des Gesundheitswesens so attraktiv?
Deutsche Staatsangehörige, die sich mit den Arbeitsbedingungen und dem Image des deutschen Gesundheitswesens nicht mehr identifizieren können, finden in der Schweiz eine gute Alternative. Das deutsche Gesundheitswesen hat sich auf «Kostenminimierung» fokussiert. Darunter gelitten haben Arbeitsplatzsicherheit, Löhne, Arbeitsprozesse wie in Produktionsbetrieben, Qualität, ­Patientenbeziehungen, Branchenimage und vieles mehr. Wer möchte noch in einer solchen Kultur arbeiten? Arbeitskräfte wandern ab – entweder in die Schweiz oder aus dem Beruf.
4) Was halten Sie von den Aussagen des deutschen Gesundheitsministers?
Wenn Herr Spahn nun um Verständnis für seine Pläne wirbt, habe ich dafür wenig Verständnis. Klar, ein gewaltiger Arbeitskräftemangel zeichnet sich in Deutschland ab – doch die Misere ist selbst gemacht. Und das Schlimmste: Die Schweiz ist auf gutem Weg, Deutschland nachzueifern. (leo)
Somedia Press AG
Zwinglistrasse 6
CH-8750 Glarus
Tel. +41 55 645 28 31
lisa.leonardy[at]somedia.ch