Die lässliche Sünde des Alain Berset

Tribüne
Ausgabe
2019/16
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17717
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(16):593-594

Affiliations
Dr. med., Präsident der FMCH

Publiziert am 16.04.2019

Résumé

L’auteur Robert Menasse a prêté au premier président de la CEE (l’ancêtre de l’UE) des paroles qu’il n’a jamais prononcées. Pour le Tages-Anzeiger, c’est un «péché véniel». Menasse a simplement choisi le mauvais genre, l’essai, autrement il aurait eu la liberté artistique d’inventer des mensonges. Le conseiller d’Etat genevois Pierre Maudet a menti lui aussi. D’après Christoph Blocher, les hommes politiques mentent souvent. Il estime qu’en tant que conseiller fédéral, un principe collégial oblige à cela. Mais pour lui, l’objectif doit justifier le mensonge, ce qui n’est pas le cas pour Maudet. Le président du PDC Gerhard Pfister pense que la politique ne connaît aucune vérité. Elle ne fait qu’analyser les faits de façons différentes. Le 8 novembre 2018, Alain Berset a pris position sur deux études controversées concernant les revenus des médecins: «Il est évident que ce ne sont pas les mêmes chiffres. Ils montrent cependant la même réalité. Quand on regarde cette réalité, on saperçoit que ces chiffres concordent tout à fait. Ils fonc­tionnent ensemble. Et une fois encore, j’affirme qu’ils montrent une transparence sur une réalité en 3D.» En 3D? La vérité est toujours rectiligne et unidimensionnelle. La deuxième dimension est ce que le président du PDC appelle «la différence d’analyse politique». Cette deuxième dimension définit une surface, à savoir le vaste champ des opinions politiques. La troisième dimension est la déformation intentionnelle de la vérité. On parle d’un tissu de mensonges. Berset le politicien a fait cette déclaration sur la 3D dans l’émission 10vor10, non dans une émission comique. Il a choisi le mauvais genre et, dans la logi­que du Tages-Anzeiger, n’a commis qu’un péché véniel.
Robert Menasse (geb. 1954), österreichischer Schriftsteller (Die Hauptstadt), mehrfach mit Auszeichnungen dekoriert, legte in seinen Schriften dem ersten Präsidenten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG – Vorläuferin der EU – Walter Hallstein (1901–1982) Zitate in den Mund, die dieser nie gesagt hatte [1]. Dies sei eine «lässliche Sünde», meint der Tages-Anzeiger. Menasse habe sich einzig im Genre vergriffen, wenn er solche unwahren Zitate in einem Essay verwende. Ansonsten aber gelte für den Dichter die künstlerische Freiheit [2]. Alles klar? Falsches Genre gleich lässliche Sünde.
Claas Relotius (geb. 1985) ist, nein, war ebenfalls ein umworbener Star. Um seine Reportagen riss man sich im ganzen deutschsprachigen Raum. Auch in der Schweiz durfte er in der NZZ am Sonntag und in der Weltwoche schreiben. Sein Problem: Viele seiner Geschichten ­waren frei erfunden [3]. Die Empörung in der Szene ist gross, Relotius wohl für längere Zeit oder gar für immer out. Denn er verkaufte seine Lügen in der Sparte «Reportagen», eine Todsünde.
Seine Sperberaugen sind ein Fall für den Ophthal­mologen. Urs P. Gasche schreibt am 24. Januar 2019 auf seiner Online-Plattform [4]: «Chirurgen überlassen Pa­tienten mit neuen Hüft- und Kniegelenken meist ihrem Schicksal. Fast keiner dieser Chirurgen interessiert sich für seine Patientinnen und Patienten, nachdem diese das Spital verlassen haben.» Nach der Lesart des Tages-­Anzeigers handelt es sich bei diesen Lügen um lässliche Sünden. Er hätte einzig das Format des Pamphlets und nicht des seriösen Journalismus wählen sollen.
Noch vor gut einem Jahr war er der Shootingstar der Politik. Heute kämpft Pierre Maudet (geb. 1978) ums politische Überleben – und wohl auch um das Ruhegehalt nach dem Ausscheiden aus dem Amt als Genfer Staatsrat. Und beinahe hätte – nach 1989 – ein zweites Mitglied der gleichen Partei wegen einer Lüge vorzeitig als Bundesrat zurücktreten müssen.
Nach wie vor ist Maudet als Kolumnist einer der grössten Tageszeitungen willkommen. Als sie vor 60 Jahren erstmals erschien, erzählte man den Witz: «Im Himmel steht ein Christbaum voller Glöcklein. Immer wenn jemand auf Erden lügt, klingelt eines. Plötzlich schüttelt sich der ganze Baum und Hunderte Glöckchen klingeln gleichzeitig. Petrus meint, es werde soeben die erwähnte Zeitung gedruckt.»
Der Präsident der Partei mit den christlichen Werten sagte in der NZZ vom 6.10.2018, in der Politik gebe es keine Wahrheit. Die Politik «bewerte» nur die Fakten unterschiedlich [5].
Am 7.11.2018 nahm der Bundespräsident an einer Medienkonferenz zu den Einkommensdaten der Ärzteschaft Stellung. Sind die durchschnittlich 257 000 CHF pro Jahr korrekt, die eine Studie im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit BAG nennt? Oder sind die 155 000 CHF des Bundesamtes für Statistik BfS korrekt? Dazu Alain Berset: «Es ist absolut selbstverständlich: Das sind nicht dieselben Zahlen. Sie zeigen aber dieselbe Realität. Wenn man diese ­Realität anschaut, dann merkt man: Diese Zahlen sind absolut übereinstimmend. Sie funktionieren zusammen. Und noch einmal: Sie zeigen eine Transparenz über eine Realität in 3-D. Wenn ich das so sagen darf.»
Was meint der oberste Geometrielehrer der Nation mit 3-D? Kleiner Nachhilfeunterricht: Die Wahrheit ist immer geradlinig, eindimensional. Die zweite Dimension ist die unterschiedliche Interpretation der Wahrheit, eben die «politische Wertung», wie es der CVP-Präsident ausdrückt. Mit dieser zweiten Dimension wird eine Fläche umrissen, das grosse Feld der Meinungen, wie man gerne sagt. Die dritte Dimension ist das bewusste Verdrehen der Wahrheit. Daher spricht man vom Lügengebäude.
Der Sohn eines Pfarrers meinte im Interview der Sonntagszeitung vom 23.9.2018 [6], Politiker würden relativ häufig lügen. Aber die Zielerreichung müsse die Lüge rechtfertigen, was bei Maudet nicht der Fall sei. Gerade als Bundesrat sei man wegen des Kollegialprinzips zum Lügen gezwungen Zu Bersets Geometrie schweigen die sechs anderen im Bundesrat – auch das Ehrenmitglied der FMH. Ein Schweigen der Kollegialbehörde in 3-D, wenn man das so sagen darf. Offensichtlich gerechtfertigt durch die politischen Ziele, wie es Christoph Blocher sagt.
In der Logik des Tages-Anzeigers ist die dritte Dimension des Alain Berset eine lässliche Sünde. Das Genre war falsch gewählt. Nicht Einstein – Das Wissenschaftsmagazin oder Sternstunde Philosophie. Nein, man muss sich 10vor10 vom 8.11.2018 «reinziehen» [7]. Da wird sofort klar, Alain Berset, nicht Michael Elsener heisst der neue Comedystar. Mit solchen Nummern würden die Einschaltquoten der serbelnden Humorsendung late update schlagartig steigen.
PS. Wer der Meinung ist, mein Beitrag sei ebenfalls 3-D, möge mir vergeben. Auch ich bin ein lässlicher Sünder, der sich im Format verwählt hat. Natürlich gehört so etwas in den Nebelspalter, nicht in die Ärztezeitung.
Dr. med. Josef E. Brandenberg
Rebstockhalde 18
CH-6006 Luzern
josef.brandenberg[at]hin.ch
1 kae/dpa. Erfundene Zitate. Darum geht es in dem Fall Robert Menasse. Spiegel-online, 4.1.2019.
2 Martin Ebel. Die lässliche Sünde von Robert Menasse. Tages-Anzeiger, 4.1.2019.
3 Ullrich Fichtner. «Spiegel legt Betrugsfall im eigenen Haus offen.» Spiegel-online, 19.12.2018.
4 Urs P. Gasche. Sie operieren unverantwortlich und kassieren teils doppelt. Infosperber, 24.1.2019.
5 Peer Teuwsen. «Wir Politiker sollen diejenigen sein, die am meisten lügen? Das sind doch Fake-News!» Streitgespräch zwischen Anita Fetz (SP) und Gerhard Pfister (CVP). NZZ, 6.10.2018.
6 Denis von Burg, Andreas Kunz. Interview mit Christoph Blocher. Sonntagszeitung, 23.9.2018.
7 10vor10, SRF 8.11.2018.