Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften

Die SAMW setzt sich für ein nachhaltiges Gesundheitssystem ein

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2019/14
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17736
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(14):506-507

Affiliations
Generalsekretärin der SAMW

Publiziert am 02.04.2019

Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) präsentiert ein neues Positionspapier zur nachhaltigen Entwicklung des Gesundheits­systems. Das Ziel ist, die Diskussion über dieses wichtige Thema neu zu lancieren. Die SAMW beschreibt, was sie unter einem nachhaltigen Gesundheitssystem versteht, welche Ziele verfolgt werden müssen und welche Entwicklungen die Zukunft bringen könnte. Dabei stellt sie das «Triple Aim»-Konzept als Kompass ins Zentrum und formuliert acht übergeordnete Massnahmen. Ergänzt wird das Positionspapier durch eine Roadmap mit konkreten Teilaufgaben.
2011 lancierte die SAMW das Projekt «Nachhaltiges Gesundheitssystem», um die Bevölkerung und Gesundheitsfachkräfte für dieses Thema zu sensibilisieren. Ein Jahr später publizierte sie eine Roadmap mit sieben Zielen. Die beinahe zeitgleiche Veröffentlichung der Agenda «Gesundheit2020» durch das Eidgenössische Departement des Innern trug wesentlich zur Umsetzung mehrerer Ziele in Sachen Transparenz, Chancengleichheit sowie Lebens- und Behandlungsqualität bei [1].
Dennoch: Das Jahr 2020 steht vor der Tür und die ­Bilanz ist durchzogen. Die Herausforderung, die Auf­gaben einer Gesundheitsversorgung zu definieren, die den künftigen Generationen bezahlbare und befrie­digende medizinische Leistungen bietet, wurde noch nicht gemeistert. Angesichts dieser Feststellung machte sich eine Gruppe von Vertreterinnen und Vertretern aus der akademischen Welt, von Patienten­organisationen und Versicherungen um den SAMW-Präsidenten Daniel Scheidegger erneut an die Arbeit. Das Ergebnis ihrer Überlegungen wurde einer Expertengruppe unterbreitet und anschliessend vom SAMW-Vorstand bestätigt. Im Januar 2019 lud die SAMW rund 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu einem Workshop ein, um über nötige Massnahmen für die Umsetzung des neuen Positionspapiers zu ­diskutieren.

«Triple Aim» als Kompass

Für Reformen braucht es gemeinsame Ziele, an denen sich alle Akteure orientieren können. Eine solche Orientierung für das Gesundheitssystem bietet das 2007 vom Institute for Health Care Improvement in Boston entwickelte «Triple Aim»-Konzept. Dessen Grundidee ist es, gleichzeitig aus einer Public-Health-Perspektive, einer individualmedizinischen Perspektive und einer Nachhaltigkeitsperspektive Ziele für das Gesundheitssystem zu formulieren.
Der Mehrwert des Konzepts ist der explizite Einbezug der Bevölkerungsebene. Dadurch richtet sich der Blick nicht allein auf die Qualität der individuellen Versorgung, sondern auch auf Priorisierungs- und Verteilungsfragen. Die von der amerikanischen Expertin ­Catherine Craig am Workshop vom Januar 2019 präsentierten Beispiele sind selbstredend: erhöhte Gesundheitskompetenz bei den gemeinsam von den örtlichen Kliniken und den Pastoren betreuten Afroamerikanern mit Bluthochdruck in Memphis (Tennessee), die Verbesserung des Gesundheitszustands der Diabetiker und der Impfquote bei den Kindern des Navajo-Stamms dank Gesundheitscoaches sowie die massiv positiven Auswirkungen des an schottischen Schulen durchgeführten Programms «The Daily Mile» bei übergewichtigen Kindern.
All das sind konkrete Massnahmen, die sich positiv auf die Gesundheit und auf die Gesundheitskosten auswirken. Der Kostenanstieg, der die Bevölkerung belastet, ist das Symptom eines tiefen Widerspruchs, der das System aushöhlt: Der Wunsch nach Gesundheit ist grenzenlos, die Ressourcen sind begrenzt. Je mehr finanzielle Mittel der Staat für das Gesundheitswesen aufwenden muss, desto weniger stehen ihm aber für andere Aufgabenbereiche zur Verfügung. Falls dies zu Einschränkungen im Bildungs-, Sozial- oder Umweltbereich führt, kann dies langfristig den Gesundheitszustand der Bevölkerung verschlechtern. Die Wissenschaft hat aufgezeigt, dass lediglich 10 bis 20 Prozent des Gesundheitszustands der Bevölkerung von ihrem Zugang zur medizinischen Versorgung abhängen. Die übrigen 80 bis 90 Prozent haben mit individuellen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Faktoren zu tun [2].
Gestützt auf diese Überzeugungen präsentiert die SAMW im Positionspapier acht Massnahmen, die sie für die nachhaltige Entwicklung des Gesundheitssystems als sinnvoll und notwendig erachtet:
1. Die Akteure des Gesundheitssystems orientieren sich am «Triple Aim»-Konzept.
2. Die Kantone schliessen sich zu wenigen Gesundheits­regionen zusammen.
3. Die Vermittlung von Gesundheitskompetenz beginnt bereits im Kindesalter.
4. Die Schweiz kennt den Bedarf an Gesundheitsfachleuten und richtet die Anzahl Ausbildungsplätze danach aus.
5. Die notwendigen Daten für Qualitätssicherung und ­Versorgungsforschung stehen zur Verfügung.
6. Nicht mehr nötige Interventionen entfallen aus dem ­Leistungskatalog.
7. Neue Vergütungsmodelle vermindern finanzielle Fehlanreize.
8. Der Bund legt eine Obergrenze für die Steigerung der ­Gesundheitsausgaben fest.
In Anlehnung an die vom Hastings Center in den 1990er-Jahren formulierten und von der SAMW 2004 in ihrer Publikation «Ziele und Aufgaben der Medizin zu Beginn des 21. Jahrhunderts»aufgegriffenen Ziele (vgl. Randspalte links) betont auch das neue Positionspapier, dass das Ziel medizinischer Handlungen nicht zwingend die «Restitutio ad integrum» (d.h. die Heilung ohne bleibende Schäden) ist, sondern die Wiedererlangung der Fähigkeit, ein aus Sicht der Betroffenen sinnvolles Leben weiterführen zu können.

Mit der Bevölkerung

Die SAMW versteht es als ihre Pflicht, sich für eine nachhaltige, allen zugängliche, hochwertige und ­erschwingliche Medizin einzusetzen. Das Positions­papier lädt alle ein, den Blick über den eigenen Tellerrand hinaus zu wagen, zu realisieren, dass ein «Weiter wie bisher» nicht zukunftsfähig ist, und die notwendigen Massnahmen einzuleiten, damit die Kompass­nadel wieder in die richtige Richtung zeigt.
Die Neugestaltung des Gesundheitssystems geht nicht nur die «Akteure des Gesundheitssystems» an. Wie der ehemalige Staatssekretär für Bildung und Forschung, Charles Kleiber, im Schwerpunkt des SAMW-Bulletins 01/2019 richtig schreibt, ist es Zeit, der Bevölkerung das Wort zu geben. Gemäss dem Prinzip «wer zahlt, befiehlt» ist nur die Bevölkerung befugt zu entscheiden, welche Gesundheitspolitik sie will, was sie für ihre Pflege und Versorgung zu zahlen bereit ist, welche ­Organisationen dies am besten gewährleisten und wie die legitimen Privatinteressen auch das Gemeinwohl berücksichtigen müssen.
Die SAMW setzt sich für diesen Weg mit der Bevölkerung ein. 2018 hat sie die Einladung zur Westschweizer Gesundheitsmesse «Salon Planète Santé» angenommen, um den Dialog mit den Besucherinnen und Besuchern über die Herausforderungen zur Sicherung eines nachhaltigen Gesundheitssystems aufzunehmen [3]. Der lebendige und erhellende Austausch ermutigt die SAMW, solche Begegnungen zu wiederholen. Verschiedene Ansätze werden geprüft, darunter die Möglichkeit eines Dialogs mit der Jugend. Gerade sie ist auf Nachhaltigkeit angewiesen.
Das Positionspapier ist auf Deutsch, Französisch und Englisch erhältlich. Es kann kostenlos heruntergeladen oder in gedruckter Form (d/f) bestellt werden: samw.ch/positionspapiere.
Valérie Clerc
Generalsekretärin der SAMW
Haus der Akademien
Laupenstrasse 7
CH-3001 Bern
v.clerc [at] samw.ch
1 SAMW: Nachhaltiges Gesundheitssystem: Die «Roadmap» auf dem Prüfstand, Bulletin 03/2017, S. 1–4.
2 SAMW: Zukunft des Gesundheitswesens: auf dem Weg zu einem neuen Gesundheitspakt? Bulletin 01/2019, S. 3.