Stellungnahme der Schweizerischen Vereinigung Psychiatrischer Chefärztinnen und Chefärzte SVPC

Das Anordnungsmodell – Kopie eines "kaputten Systems"

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2019/15
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17757
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(15):540-541

Affiliations
Prof. Dr. med., als Präsident und im Namen der Schweizerischen Vereinigung Psychiatrischer Chefärztinnen und Chefärzte SVPC

Publiziert am 09.04.2019

Am 24. März 2019 hat der renommierte Psychiater und Chefarzt einer grösseren Versorgungsklinik in Deutschland, Dr. Manfred Lütz, einen aufrüttelnden Gastkommentar unter dem Titel «Wartezeiten auf einen Therapieplatz – Wie ein Lobbyverband psychisch Kranken schadet» im SPIEGEL ONLINE1 veröffentlicht.
Er zeigt auf, wie sich die Versorgungsqualität für psychisch schwer erkrankte Patienten in Deutschland auf ein besorgniserregend tiefes Niveau gesenkt hat. Die Wartezeiten auf einen Therapieplatz sind für diese ­Patienten derzeit auf die inakzeptable und medi­zinisch gefährliche Dauer von rund fünf Monaten ­angestiegen. Er bezeichnet die aktuelle ­Situation als ­eigentlichen «Zusammenbruch der ambulanten psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung» und als «kaputtes System», welches die Behandlung von Gesunden fördere und die wirklich Kranken leer ausgehen lasse. Lütz führt weiter aus, dass es in Deutschland «keinerlei wirksame Kontrolle [mehr gäbe]..., ob ein Kranker bei einem Psychotherapeuten sitze oder [ob es sich um einen] Menschen in einer Lebenskrise [handle]». Als Folge davon, schliesst Lütz, sei das Psychotherapiesystem in Deutschland zum Selbstbedienungsladen für Psychotherapeuten verkommen, welche das gleiche Honorar erhalten, unabhängig davon, ob sie einen psychisch «schwer gestörten Patienten» oder einen «gesunden Menschen mit Gesprächsbedarf» behandeln. Als Lösung der offensichtlich dysfunktionalen Versorgungssituation in Deutschland sieht Lütz die Etablierung eines Steuerungs-Mechanismus, um (1) gesunden Menschen in Lebenskrisen alternative Hilfsmöglichkeiten als die der kassenfinanzierten psychologischen Psychotherapie aufzuzeigen, und um (2) so die bestehenden Therapiekapazitäten für psychisch schwer kranke Menschen freizumachen. Entsprechend hat der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn einen ­Gesetzesentwurf zur «gestuften und gesteuerten Versorgung» vorgelegt, welcher nun von den Psychologenverbänden vehement bekämpft wird. Innert kürzester Zeit hat die Bundespsychotherapeutenkammer 200 000 Unterschriften gesammelt, um den Gesetzesentwurf mit der Argumentation zu bekämpfen, «Hürden» für psychisch Kranke abzubauen und den «freien Zugang» zur psychologischen Psychotherapie zu ermöglichen.
Wie ist es in Deutschland überhaupt soweit ge­kommen? – Im Jahr 1999 wurde die Finanzierung des Gesundheitswesens dahingehend geändert, dass Psychologen und Psychologinnen ihre Psychotherapieleistungen direkt über die Grundversicherung abrechnen konnten. Die Indikation für die eigens angebotene Psychotherapie stellen sie seither selbst. Die einzige ärztliche Interaktion besteht darin, dass ein Hausarzt in Form eines sogenannten «Konsiliarberichts» bescheinigen muss, dass keine medizinische Kontraindikation für eine Psychotherapie besteht. Da somatisch-medizi­nische Kontraindikationen für eine Psychotherapie kaum existieren, trägt diese ärztliche Intervention ­weder zu einer wirksamen Therapiein­dikation, einer Qualitätskontrolle noch zu einer Versorgungssteuerung bei. Faktisch ist es dadurch in Deutschland zur ­Situation gekommen, dass sich die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in zwei voneinander weitgehend unabhängige Stränge auseinander entwickelt hat: einen psychologisch-psychotherapeutischen Strang für Personen mit leichteren Störungen wie Burnout, Lebenskrisen und auch Befindlichkeitsstörungen, und einen psychiatrischen Strang für schwerkranke Menschen mit schizophrenen und bipolaren Psychosen, Suchterkrankungen und anderen komplexen und schwer behandelbaren Störungsbildern. Diese für Patienten wie auch Versorgung unvorteilhafte Aufteilung der Aufgaben wird dadurch noch drastischer, als dass sich die Finanzierung genau umgekehrt wie sonst in der Medizin entwickelt hat: für psychologisch-psychotherapeutische Leistungen gilt ein Tarif von 90 Euro pro 50 Minuten, während für die psychiatrische Behandlung der Schwerkranken ein Budget von lediglich 50–100 Euro pro Patient und pro Quartal (!) vorgesehen ist.
Diese Versorgungsmisere in Deutschland hat leider eine besondere Aktualität in der Schweiz erhalten. Unter der Federführung der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) haben Psychologenverbände und andere Organisationen am 11. März 2019 beim Bundesrat die über 94 000 Unterschriften starke Petition «Hürden abbauen – Behandlung psychischer Krankheiten sicherstellen» eingereicht. Dabei wird gefordert, das derzeit geltende «Delegationsmodell» durch das sogenannte «Anordnungsmodell» zu ersetzen. Im Delegationsmodell wird erst eine fachärztliche Indikation für eine psychologische Psychotherapie gestellt und der Therapieverlauf wird durch die Fachärztin bzw. den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Form von periodischen Fallbesprechungen und -visiten zusammen mit der Psychologin bzw. dem Psychologen begleitet. Dabei finden eine Qualitätssicherung und insbesondere eine wiederholte Evaluation der Psychotherapieindikation und -wirkung statt. Da psychische Krankheiten biologische, psychologische und soziale Aspekte einschliessen, besteht die Diagnose und die daraus resultierende umfassende Therapie zwingend aus der Integration der bio-­psycho-sozialen Dimensionen und Faktoren der Krankheit. Diese Integrationsleistung ist eine der Kernkompetenzen von Psychiaterinnen und Psychiatern. Damit diese fachärztliche Steuerung der psy­chologischen Psychotherapie funktioniert, arbeiten Psychologin und Psychiater in den gleichen Praxisräumlichkeiten. Auf der anderen Seite würde das von der Petition geforderte Anordnungsmodell lediglich eine ärztliche (unabhängig vom Fachgebiet des Arztes) Verordnung einer psychologischen Psychotherapie vorsehen, ohne weitere Qualitätskontrolle und ohne jegliches fachlich geregeltes Therapieverlaufsmonitoring.
Die zukünftige Strategie der FSP geht allerdings noch wesentlich weiter und ist auf deren Website2 nachzulesen: «Für die FSP ist das Anordnungsmodell ein Kompromiss, denn die akademische Aus- und Weiterbildung der psychologischen Psychotherapeutinnen und -therapeuten würden eine Gleichstellung mit den Psychiaterinnen und Psychiatern rechtfertigen. Die Gleichstellung würde eine Aufnahme der psychologischen Psychotherapeutinnen und -therapeuten als eigenständige Leistungserbringer im Krankenversicherungsgesetz (KVG) bedeuten. Diese Gesetzesänderung würde viel Zeit in Anspruch nehmen. Um die Neuregelung der Psychotherapie in absehbarer Zeit umzusetzen, wird deshalb das über eine Verordnungsänderung realisierbare Anordnungsmodell angestrebt.»
Da sich das in der Petition geforderte Anordnungsmodell praktisch kaum vom aktuellen Modell in Deutschland unterscheidet, und die vorschwebende Strategie der hinter der Petition stehenden Psychologenverbände sogar noch weiter führen würde, sieht die Ver­einigung Psychiatrischer Chefärztinnen und Chefärzte (SVPC) in der aktuellen Entwicklung eine grosse Gefahr für die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in der Schweiz. Aus Sicht der SVPC könnten daraus drei für die Finanzierung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung gefährliche Szenarien resultieren: (1) Kostenexplosion durch Mengenausweitung, (2) Senkungen des Psychiatrie-Tarifs und sich dadurch weiter verschärfender Nachwuchsmangel sowie (3) Unterversorgung der psychisch Schwerkranken durch Kostenverschiebung zu leichter erkrankten Personen.
Daher spricht sich die SVPC klar gegen die Petition und das angestrebte «Anordnungsmodell» bzw. den angestrebten freien «hürdenlosen» Zugang von psychologischen Psychotherapeuten zur Grundversicherung aus. Im Gegensatz dazu favorisiert die SVPC ein System der integrierten psychiatrisch-psychotherapeutischen Gesundheitsversorgung, in welchem die verschiedenen an der Behandlung beteiligten Berufsgruppen kompetenzspezifisch und damit wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sinnvoll eingesetzt werden.
Prof. Dr. med. Erich Seifritz
erich.seifritz[at]bli.uzh.ch