Das Recht als «Störfaktor» in der Medizin?

Tribüne
Ausgabe
2019/20
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17794
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(20):706-707

Affiliations
a Dr. iur.; b lic. iur., Advokatin, dipl. Steuerexpertin

Publiziert am 15.05.2019

Das Verhältnis zwischen Medizin und Recht ist zusehends angespannt. Bei der Ärzteschaft scheint Unmut über eine «inadäquate Einmischung» der Juristen in die Medizin zu herrschen. Nach Auffassung der Autoren liegt das Problem indessen nicht in der Interaktion des Rechts mit der Medizin per se, sondern in der Vorgehensweise der beteiligten – juristischen wie medizinischen – Akteure.
Das Verhältnis zwischen Medizin und Recht, zwischen Ärzten und Juristen, scheint zusehends angespannt zu sein. So war etwa unlängst in just diesem Medium vonseiten der Ärzteschaft zu lesen, dass «die Halbgötter in Schwarz unsere Medizin» verändern [1], wobei zwischen den Zeilen durchschimmerte, dass die entsprechenden Veränderungen nicht unbedingt vollum­fänglich positiv gewertet wurden. Bereits bei einer früheren Gelegenheit wurde durch die Ärzteschaft ein deutlich wahrnehmbares Befremden darüber ausgedrückt, dass man z.B. von Anwälten harsche Anweisungen dazu entgegennehmen müsse, wie ein Arbeitszeugnis für Ärzte konkret zu formulieren sei [2]. Besonders pointiert schliesslich die – aus der Perspektive der Medizin getroffene – Feststellung: «Die juristische Welt der Normen steht in unvereinbarem Gegensatz zur medizinischen Welt der Wahrscheinlichkeiten und Erfahrungen» []. Wird sich die Ärzteschaft damit abfinden müssen, dass ihr die Juristen weiterhin – und zudem immer häufiger – Vorgaben dazu machen, wie sie ihre Arbeit zu erledigen hat? Und werden die Gerichte letztlich die Medizin mit lauter «inadäquaten» Urteilen empfindlich stören oder gar «zerstören»?
Diese Szenarien müssen keineswegs Realität werden. Fest steht zwar zunächst, dass (auch) die Medizin kein «rechtsfreier Raum» ist, sondern dem staatlichen und dem Standesrecht – deren «Regelungsdichte» im Übrigen kontinuierlich zunimmt – unterliegt. Und ebenso wenig ist von der Hand zu weisen, dass hinsichtlich der Beilegung von Differenzen (auch) im Bereich der Medizin immer häufiger Entscheidungen auf dem Rechtsweg gesucht werden – mit der Folge, dass sich die Richter mit der Urteilsfällung letztlich tatsächlich «in die Medizin einmischen». Das allerdings muss per se nicht «schlecht» oder nachteilig für die Medizin sein.

Résumé

La relation entre médecine et droit se tend à vue d’œil. Il semble régner au sein du corps médical un mécontentement quant à une «ingérence inappropriée» des juristes dans la médecine. Si la médecine n’est certes pas une «zone de non-droit» et que le nombre de cas pour lesquels les tribunaux interviennent par le biais de jugements augmente, cela ne doit pas être en soi «mauvais» pour la médecine elle-même. Le véritable problème réside dans le fait que les juges et autres juristes «interviennent dans la médecine» sans comprendre, ni prendre (suffisamment) en considération ses particularités bien spécifiques. Afin de remédier à ce déficit, toutefois, les exigences ne s’adressent pas uniquement aux tribunaux. Il faut également tout particulièrement de la part des parties impliquées dans le système de santé (médecins, hôpitaux, etc.) des représentants qui exposent surtout, en parallèle aux arguments d’ordre juridique, la réalité des faits liée à la particularité de chaque spécialité médicale. Cela présuppose que les représentants en question disposent du niveau d’expertise correspondant, et qu’ils soient prêts à faire les efforts nécessaires pour l’acquérir. De telles procédures sont le seul moyen d’éviter, in fine, des jugements «inadéquats» d’un point de vue médical et de faire baisser à long terme la tension dans la relation entre médecine et droit.

Spezifische Besonderheiten werden zu wenig berücksichtigt

Denn das eigentliche Problem liegt vielmehr darin, dass sich Richter und andere Juristen «an der Medizin zu schaffen machen», ohne deren spezifische Besonderheiten (hinreichend) zu verstehen und zu berücksichtigen. Dieses Phänomen ist freilich schon aus anderen Bereichen bekannt. So ist etwa im organisierten, professionellen Sport ein Sturm der Entrüstung losgebrochen, als die Richter am Gerichtshof der Europäischen Union es Mitte der 1990er Jahre «gewagt» hatten, ein Urteil zu fällen, mit dem zentrale Regelungen und Gepflogenheiten im Fussball EU-weit für rechtswidrig erklärt wurden [3]. «Unkenntnis» und «Naivität» waren noch die harmlosesten Attribute, die sich die EU-Richter in der Folge anheften lassen mussten.
Es stimmt zwar: Die Richter am EU-Gerichtshof sind keine Sportexperten und die Richterinnen und Richter an schweizerischen Gerichten keine Medizinexperten. Die «Schuld» für «inadäquate» Urteile im Bereich der Medizin alleine bei den Gerichten verorten zu wollen, greift jedoch zu kurz. Es kommt jeweils auch sehr darauf an, wie eine Sache vor Gericht – oder auch vor anderen Behörden – vertreten wird. Es gilt zwar der Grundsatz «iura novit curia» – das Gericht kennt das Recht, d.h., das muss ihm nicht erläutert werden. Was das Gericht in aller Regel jedoch nicht kennt, sind die tatsächlichen Umstände, die spezifischen Besonderhei­ten des jeweiligen Sach- und Fachbereichs, in welches es mit seinem Urteil eingreift. Und diesem Umstand wird seitens der Parteien und ihrer Vertreter immer noch erstaunlich wenig Aufmerksamkeit gewidmet.
So haben etwa die beklagten Sportverbände im vor­stehend genannten EU-Fall viel darauf verwendet, den Richtern darzulegen, wie sie das Recht anzuwenden hätten. Die Besonderheiten des Sports – und vor allem die sportlich motivierten, durchaus berechtigten Gründe für die in Frage stehende Regelung – wurden hingegen kaum erläutert. Möglicherweise wäre das Urteil etwas «milder», jedenfalls aber differenzierter, ausgefallen, wenn hier anders vorgegangen worden wäre.

Sachverständnis verbessert die Vermittlung zwischen Medizin und Recht

Nun soll die hochspezialisierte, moderne Medizin natür­lich nicht mit dem Sport verglichen werden. Dennoch sind aber gewisse Parallelen bezüglich der hier interessierenden Umstände auszumachen. Demnach braucht es, soweit es im Einzelfall zu «zugespitzten Berührungen» – der Ausdruck «Kollisionen» sei hier tunlichst vermieden – zwischen Medizin und Recht kommt, insbesondere auch auf Seiten der involvierten Exponenten des Gesund­heitswesens Vertreterinnen und Vertreter, die den Gerichten neben rechtlichen Argumenten vor allem auch die spezifischen Besonderheiten des jeweiligen (medizinischen Sach-)Bereichs in faktischer Hinsicht darlegen. Das heisst, es gilt, dem Gericht – oder auch anderen Behörden bzw. Institutionen – jeweils nachvollziehbar zugänglich zu machen, warum im Bereich der Medizin gewisse Dinge in einer bestimmten Art und Weise gehandhabt werden, was die Motivation hinter bestimmten Regelungen war bzw. ist, usw. Denn die medizinischen Fachorganisationen sind mit ihren autonom erlassenen Regelwerken grundsätzlich «gut aufgestellt». Sowe­it diese auf sachgerechten Überlegungen beruhen, wird ein Gericht nicht generell abgeneigt sein, die Spielräume, die das Recht ihm eröffnet, zugunsten der Medizin zu interpretieren.
Ein solches Vorgehen setzt aber natürlich ein entsprechendes Sachverständnis – und die Bereitschaft, sich die Mühe zu machen, sich dieses anzueignen – bei den juristischen Vertreterinnen und Vertretern der jeweils involvierten Ärztinnen und Ärzte, medizinischen Institutionen und anderen Exponenten des Gesundheitswesens voraus. Und diesbezüglich wiederum gibt es im «Juristenstand», das ist durchaus selbstkritisch einzuräumen, noch einiges «Entwicklungspotenzial» – das erwähnte Verständnis und die damit verbundene ­Herangehensweise sind nach wie vor zu wenig weit verbreitet. Auf Seiten der Medizin wiederum ist man gut beraten, vorzugsweise auf Juristinnen und Juristen zurückzugreifen, die diese Zusammenhänge begriffen haben und demnach medizinische Sachverhalte für Gerichte und andere Behörden adäquat «übersetzen» können. Nach der vorliegend vertretenen Auffassung lassen sich nur mit solchen Vorgehensweisen letztlich (noch mehr) aus Sicht der Medizin «inadäquate» Urteile vermeiden und das Verhältnis zwischen Medizin und Recht langfristig wieder etwas entspannen. Und letztlich lässt sich auch nur auf diesem Wege verhindern, dass die eingangs skizzierten Szenarien, nach welchen die Gerichte die Medizin mit lauter «inadäquaten Urteilen» empfindlich stören oder gar «zerstören» könnten, eintreten.
Die Autorin und der Autor erklären, dass bei ihnen im Zusammenhang mit der in diesem Artikel behandelten Thematik keine
Inter­essenkonflikte bestehen.
Dr. iur. Remus Muresan
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1 Brandenberg JE. Halbgötter in Schwarz. Schweiz Ärzteztg. 2019;100(9):294–6.
2 Kesselring J. Arbeitszeugnis – Arztgewissen auf der Anklagebank. Schweiz Ärzteztg. 2019;100(3):62–3.
3 Dabei handelte es sich um das sog. «Bosman-Urteil» des EUGH vom 15.12.1995 (Slg. 1995 I-04921, ECLI:EU:C:1995:463).