Ergebnisse einer repräsentativen Befragung im Auftrag der FMH

Erste Erfahrungen mit den Listen «ambulant vor stationär»

FMH
Ausgabe
2019/19
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17807
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(19):637-640

Affiliations
a Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter, Abteilung Stationäre Versorgung und Tarife, FMH; b Leiterin Abteilung Stationäre Versorgung und Tarife, FMH

Publiziert am 07.05.2019

Die Verlagerung von medizinischen Eingriffen vom stationären in den ambulanten Bereich ist ein beherrschendes gesundheitspolitisches Thema. Seit dem 1. Januar 2019 gilt eine schweizweit verbindliche Liste ambulant durchzuführender Eingriffe. Bereits davor hatten einzelne Kantone ähnliche Listen eingeführt. Die FMH hat deshalb der Spitalärzteschaft zu dieser Thematik frühzeitig den Puls gefühlt.
Seit Anfang Jahr ist die neue Regelung «ambulant vor stationär» in der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) in Kraft [1]. Hierbei handelt es sich im Wesent­lichen um eine Liste von sechs Gruppen von elektiven medizinischen Eingriffen, die in der Regel nur noch bei ambulanter Durchführung von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung vergütet werden. Die Liste umfasst im Einzelnen folgende Eingriffe: einseitige Krampfaderoperationen der Beine, Eingriffe an Hämor­rhoiden, einseitige Leistenhernien-Operationen, Untersuchungen und Eingriffe am Gebärmutterhals oder an der Gebärmutter, Kniearthroskopien einschliesslich Eingriffe am Meniskus, Eingriffe an Tonsillen und Adenoiden. Eine stationäre Behandlung bleibt jedoch unter besonderen Umständen nach wie vor möglich. Mit der neuen Regelung verfolgt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) insbesondere das Ziel, Verlagerungen in den ambulanten Sektor zu fördern und Kosten zu sparen. Das BAG beruft sich hierbei auf die Ergebnisse von zwei aktuellen Studien des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) [2]. Demnach stieg gesamtschweizerisch der Anteil ambulant durchgeführter Eingriffe in den sechs analysierten Gruppen von 42% im Jahr 2010 auf bereits 59% im Jahr 2016. Dessen ungeachtet wären gemäss Obsan von den stationär durchgeführten Eingriffen immer noch rund 70 bis 80% verlagerbar gewesen.
Bereits vor der Einführung der Liste auf Bundesebene hatten einzelne Kantone ähnliche Listen eingeführt.1 Ob solche kantonalen Listen aber überhaupt rechtens sind, ist eine umstrittene Frage [3]. In einem kürzlich gefällten Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau wurde beispielsweise festgestellt, dass die Kantone keine Kompetenz hätten, kantonale Listen zu definieren, die über die Liste des Bundes hinausgehen [4].Auch die FMH hat diesbezüglich stets die Ansicht vertreten, dass die kantonalen Listen vereinheitlicht und mit der Liste des Bundes abgestimmt sein müssen, um den administrativen Aufwand zu beschränken. Das Gericht vertrat zudem die Ansicht, dass kantonale Listen zur Ungleichbehandlung von Versicherten je nach Wohnsitzkanton führen. Dessen ungeachtet seien aber eine Zweckmässigkeits- und Wirtschaftlichkeitsprüfung von Leistungen im stationären Bereich im Einzelfall durchaus möglich. Das Urteil wurde vom Aargauer Regierungsrat ans Bundesgericht weiterge­zogen [5].
Die FMH hat die inzwischen eingeführte Liste «ambulant vor stationär» des Bundesamtes für Gesundheit und die bereits früher in Kraft getretenen kantonalen Listen zum Anlass genommen, im Rahmen ihrer jährlich durchgeführten repräsentativen Befragung der Ärzteschaft abzuklären, was deren Meinungen und bisherigen Erfahrungen hinsichtlich solcher Regelungen und Listen sind.

Weitere Resultate

Weitere Informationen zur Umfrage, die 2018 vom Forschungs­institut gfs.bern im Auftrag der FMH durchgeführt wurde, finden sich unter www.fmh.ch → Themen → Stationäre Tarife → Begleitforschung. Dort sind neben zusätzlichen Auswertungen zum Thema «ambulant vor stationär» auch die Ergebnisse zu weiteren Fragestellungen wie z.B. die Arbeitsumstände und die Arbeitszufriedenheit der Ärzteschaft zusammenfassend dargestellt.

Zustimmung und Ablehnung 
halten sich die Waage

Mit Blick auf die Verordnung zu «ambulant vor stationär» hielten sich befürwortende und ablehnende Stimmen in etwa die Waage. 47% der befragten Ärztinnen und Ärzte im akutsomatischen Bereich waren voll oder eher damit einverstanden, 42% überhaupt oder eher nicht und 11% gaben keine Antwort oder hatten keine diesbezügliche Meinung (siehe Abb. 1). Ähnlich verhielt es sich mit Blick auf die konkrete BAG-Liste «ambulant vor stationär». Hier resultierte eine Zustimmungsrate von 41% und eine Ablehnungsrate von 36%, wobei der Anteil Befragter, die keine Angaben machten, mit 23% mehr als doppelt so hoch ausfiel (siehe Abb. 2). Das Bild verändert sich jedoch ­etwas, wenn es darum geht, ob solche Eingriffslisten weiter ergänzt oder auf zusätzliche Gebiete ausgeweitet werden sollen. Von dieser Aussicht war nicht einmal mehr ein Drittel der Befragten angetan (29%), und der Anteil Unentschiedener war mit mehr als einem Viertel der Befragten (27%) ausgesprochen hoch (siehe Abb. 3). Zusammengenommen deuten diese Resultate gemäss gfs.bern daraufhin, dass die Meinungsbildung zu «ambulant vor stationär» innerhalb der akutsomatisch tätigen Ärzteschaft noch nicht abgeschlossen ist und ein diesbezüglicher Informa­tions­bedarf besteht.
Abbildung 1: Zustimmung Verordnung «ambulant vor stationär».
Abbildung 2: Einverstanden mit jetzt formulierter BAG-Liste «ambulant vor stationär».
Abbildung 3: Zustimmung Ausweitung der Listen «ambulant vor stationär».

Behandlungsentscheid muss beim Arzt bleiben

Die Befragten gaben verschiedene Gründe an, weshalb sie für oder gegen eine Ausweitung der BAG-Liste «ambulant vor stationär» sind. Als Argumente dafür wurden insbesondere die Kosteneinsparung und der medizinische Fortschritt hervorgehoben. Das am häufigsten vorgebrachte Argument gegen eine Ausweitung der BAG-Liste «ambulant vor stationär» war, dass jeder Fall anders ist und Einzelentscheide Vorrang haben sollen. Zudem wird befürchtet, dass weniger Sicherheit für die Patienten besteht und der administrative Aufwand zunimmt. Ein weiteres oft genanntes Argument war, dass die medizinische Freiheit bestehen bleiben soll. In ­ihren Stellungnahmen hat die FMH denn auch verschiedentlich hervorgehoben, dass der Entscheid für eine ambulante oder stationäre Behandlung letztlich immer beim behandelnden Arzt bleiben muss [6]. Diesbezüglich hat die vorliegende Befragung auch ergeben, dass in der Akutsomatik der generelle Spielraum für die Art und Weise der Behandlung in den letzten Jahren laufend abgenommen hat und tiefer ist als in der Rehabilitation und Psychiatrie. So ist beispielsweise der Anteil Befragter, deren Spielraum sehr oder eher klein ist, zwischen 2015 und 2018 von 20 auf 27% angestiegen.

Stationäre Behandlungen vor allem aus medizinischen Gründen

Das BAG hat Kriterien bzw. Gründe festgelegt, bei welchen die Eingriffe der BAG-Liste «ambulant vor stationär» trotzdem stationär durchgeführt werden dürfen [7]. Diese umfassen neben dem Lebensalter vor allem verschiedene Begleiterkrankungen sowie soziale und organisatorische Faktoren. Ein Teil der Befragten machte Angaben dazu, weshalb Eingriffe trotzdem in einem stationären Setting erfolgten. Befragte in den Kantonen mit einer Liste «ambulant vor stationär» machten für 79% der ausgewiesenen Fälle medizinische Gründe geltend (siehe Abb. 4). Demgegenüber spielten organisatorische oder psychosoziale Gründe eine untergeordnete Rolle (11% respektive 8% der Fälle). Die Resultate für die Befragten in Kantonen ohne Listen fielen diesbezüglich ähnlich aus, auch wenn der Anteil der Fälle mit einer medizinischen ­Begründung mit 65% etwas geringer war. Sowohl im Hinblick auf die Kostenerstattung als auch für epidemiologische Erhebungen ist es erforderlich, dass die Leistungserbringer darlegen, aus welchen Gründen sie einen Listen­eingriff stationär durchgeführt haben. Damit diese Information künftig mit möglichst geringem administrativem Aufwand statistisch erhoben werden kann, hat die FMH sich für deren Abbildung in der CHOP-Klassifikation engagiert und 2018 die Eingabe eines entsprechenden Antrags unterstützt. Es ist zu hoffen, dass das Bundesamt für Statistik diesen umsetzen wird. Damit würde die Grundlage sowohl für eine administrativ einfachere Vorgehensweise als auch eine bessere Evidenzbasis gelegt.
Abbildung 4: Gründe, weshalb Patienten trotzdem stationär behandelt wurden –
nur Kantone mit Liste «ambulant vor stationär».

Komplikationen müssen im Auge ­behalten werden

Eine Befürchtung, die mit der vermehrten Verlagerung von Eingriffen in den ambulanten Sektor einhergeht, ist die einer Zunahme der Komplikationen. Die befragten Ärztinnen und Ärzte der Akutsomatik in Kantonen mit einer Liste «ambulant vor stationär» gaben an, dass es sich bei 15% aller zwischen dem 1. Januar 2018 und dem Befragungszeitpunkt im Sommer 2018 durch­geführten Eingriffe2 um verlagerte Fälle handelte, d.h. um Fälle, die neu ambulant statt stationär durchgeführt wurden. Mit jeweils 29% gab es bei Eingriffen an Tonsillen und Adenoiden sowie bei einseitigen Leistenhernien-Operationen die grössten Verlagerungen. Die Befragten machten auch Angaben darüber, wie viele Verlagerungen zu Komplikationen führten. Gesamthaft kam es demnach bei 3% der erfolgten Ver­lagerungen zu Komplikationen, wobei dies vor allem bei Untersuchungen und Eingriffen am Gebärmutterhals oder an der Gebärmutter der Fall war (13%). Bei den vorliegenden Ergebnissen handelt es sich um eine erste Annäherung. Auswertungen von administra­tiven Daten zu Verlagerungen und Komplikationen fehlen für Vergleichszwecke bisher, weshalb eine systematische Datenerhebung im Jahr 2019 und in den Folgejahren durch die Spitäler wichtig ist.

Monitoring der Auswirkungen ist zentral

Es wird in Zukunft wichtig sein, genau zu überprüfen, welche Auswirkungen die Einführung der BAG-Liste und auch der kantonalen Listen «ambulant vor stationär» nach sich zieht. Daher engagierte sich die FMH frühzeitig für ein entsprechendes Monitoring. Das BAG bildete schliesslich verschiedene Arbeitsgruppen mit den betroffenen Stakeholdern, in welchen die FMH die Anliegen der Ärzteschaft einbringt. In einer der ­Arbeitsgruppen stellte das BAG ein Konzept zum Monitoring «ambulant vor stationär» zur Diskussion. Dieses vom BAG geplante Monitoring soll insbesondere folgende Aspekte genauer beleuchten: (1) die Versorgungssituation respektive die Verlagerungen in den sechs definierten Eingriffsgruppen; (2) die Entwicklung der Kosten im Bereich der sechs Eingriffsgruppen; (3) die Qualität der ambulant und stationär durch­geführten Behandlungen (z.B. hinsichtlich Notfall­eintritte oder Komplikationen nach ambulanten Eingriffen) und (4) die administrativen Prozesse in der Rechnungsstellung und -prüfung.

Nicht nur die Symptome, sondern die Ursachen bekämpfen

Der medizinische Fortschritt ermöglicht eine zu­nehmende Verlagerung von bisher stationär durch­geführten Untersuchungen und Eingriffen in den ­ambulanten Bereich. Die Fehlanreize aufgrund der unterschiedlichen Finanzierung und Tarifierung im sta­tionären und ambulanten Sektor tragen jedoch dazu bei, dass dieses Verlagerungspotential nicht voll aus­geschöpft wird. Auch wenn die Listen «ambulant vor stationär» das Problem nicht an der Wurzel packen, dürften sie die Verschiebung vom stationären in den ambulanten Sektor beschleunigen. Wie rasch die Spitäler ihre Infrastruktur und Prozesse an diese Veränderungen anpassen können, wird sich jedoch erst zeigen. Die administrativen Prozesse werden mit der Liste «ambulant vor stationär» jedenfalls komplexer. Beispielsweise prüfen die Versicherer je nach Regelung in den Tarifverträgen vor oder erst nach dem Eingriff, ob die Voraussetzungen für einen stationären Aufenthalt erfüllt sind oder nicht. Es ist zu befürchten, dass für die Spitäler und die Ärzteschaft der administrative Aufwand durch die Liste «ambulant vor stationär» weiter steigt. Dies wäre problematisch, denn die befragten akutsomatisch tätigen Ärztinnen und Ärzte verbringen bereits heute durchschnittlich 120 Minuten pro Tag mit Dokumentationsarbeiten. Letztlich bleibt zu hoffen, dass Lösungen weiter vorangetrieben werden, welche die Ursachen und nicht das Symptom des unausgeschöpften Verlagerungspotentials bekämpfen. Hier ist insbesondere die Reduktion von Fehlanreizen durch die einheitliche Finanzierung der ambulanten und stationären Leistungen hervorzuheben [8].
FMH
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Fax 031 359 11 12
tarife.spital[at]fmh.ch
1 KLV, Anhang 1a, Einschränkung der Kostenübernahme bei bestimmten elektiven Eingriffen, I. Liste der grundsätzlich ambulant durchzuführenden elektiven Eingriffe.
2 Siehe Roth S und Pellegrini S (2018). Le potentiel de transfert du stationnaire vers l’ambulatoire. Analyse pour une sélection d’interventions chirurgicales. Etude réalisée sur mandat de l’Office fédéral de la santé publique (OFSP) (Obsan Dossier 63), Neuchâtel: Observatoire suisse de la santé (www.obsan.admin.ch → Publi­kationen); sowie Roth S und Pellegrini S (2019). Die Entwicklung der ambulanten Versorgung in den Kantonen. Analyse von sechs Gruppen chirurgischer Leistungen (Obsan Bulletin 1/2019), Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (www.obsan.admin.ch → Publikationen).
3 Siehe z.B. die Rechtsabklärung zu den Listen der Kantone Luzern und Zürich, die von Privatkliniken Schweiz 2017 in Auftrag ge-geben wurde (www.privatehospitals.ch → News).
4 Urteil des Aargauer Verwaltungsgerichts vom 5. Dezember 2018 (WNO.2018.1) (www.ag.ch → Medien → Medienmitteilungen).
5 Aargauer Zeitung vom 24. Januar 2019 (www.aargauerzeitung.ch → Aargau → Kanton).
6 Vgl. z.B. «Stellungnahme der FMH zu den Verordnungsanpassungen betreffend ‘Ambulant vor Stationär’» vom 24. August 2018 (www.fmh.ch → Politik & Medien → Vernehmlassungsantworten).
7 KLV, Anhang 1a, Einschränkung der Kostenübernahme bei bestimmten elektiven Eingriffen, II. Kriterien zugunsten einer sta-tionären Durchführung.
8 Vgl. z.B. «Konsultation zur Änderung der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) betreffend ‘Ambulant vor Stationär’» vom 31. Oktober 2017 (www.fmh.ch → Politik & Medien → Vernehm­lassungsantworten).