Zu guter Letzt

Das schweizerische Gesundheitssystem vor einer Belastungsprobe

DOI: https://doi.org/10.4414/saez.2019.17812
Veröffentlichung: 22.05.2019
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(21):756

Carlo Conti

Dr. iur. Rechtsanwalt, Partner Wenger Plattner Rechtsanwälte, ehemaliger Regierungsrat und Präsident Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK)

In den letzten Wochen haben die Medien verschiedentlich das Thema neuartiger Gen- oder Zelltherapien zur Krebsbehandlung aufgegriffen und darauf hingewiesen, dass das schweizerische Gesundheitssystem an seine Grenzen stosse. Die Kosten dieser Behandlungen liegen im sechs-, wenn nicht gar im siebenstelligen ­Bereich.

Das Gesundheitssystem und mit ihm die soziale Krankenversicherung stehen vor verschiedenen Herausforderungen. Einige seien an dieser Stelle explizit erwähnt: Wir sehen medizinische Fortschritte, die vor einigen Jahren noch unmöglich erschienen, kämpfen aber gleichzeitig gegen Engpässe bei Medikamenten und Impfstoffen oder mit Antibiotikaresistenzen. Aus­serdem stellen wir fest, dass das heutige Zulassungssystem nicht auf die rasante medizinische Entwicklung ausgerichtet ist und an seine Grenzen stösst.

Die Schweiz ist ein rohstoffarmes Land, das seinen heutigen Wohlstand in erster Linie seiner Innovationsfähigkeit verdankt. Wichtige Innovationen fanden und finden in erster Linie in den Bereichen Technik, Naturwissenschaften und eben Medizin statt. Es ist unbestritten, dass wir unser Erfolgsrezept innovativer Entwicklungen nur fortführen können, wenn wir bereit sind, entsprechende Ressourcen, insbesondere auch ­finanzielle Mittel, in Forschung und Bildung zu investieren. Nur dann werden uns auch künftig innovative und hochentwickelte Produkte zur Verfügung stehen. Auch die neuen medizinischen Behandlungsmethoden sind eine Folge unserer Innovationsfähigkeit. Sie bedeuten für Menschen, deren Erkrankungen bisher nicht heilbar waren oder deren Krankheitsverlauf im besten Fall verlangsamt werden konnte, Hoffnung auf ein gesundes oder zumindest ein trotz Krankheit lebenswertes Leben.

Gleichzeitig beklagen wir das jährliche Wachstum der Gesundheitsausgaben und als direkte Folge davon die jährlich steigenden Prämien der Krankenversicherung. Auf politischer Ebene hat dies einen Aktivismus zur Folge, der zu einer Vielzahl von politischen Vorstös­sen und Gesetzesrevisionen führt, die das Wachstum der Gesundheitskosten dämpfen sollen. Dabei besteht die Gefahr, dass wir das grosse Ganze aus den Augen verlieren und uns mit Detailfragen lähmen. Die poli­tischen Bestrebungen laufen der medizinischen Entwicklung zuwider: Auf der einen Seite begrüssen wir den medizinischen Fortschritt; auf der anderen Seite blenden wir aber aus, dass diese Entwicklung ihren Preis hat.

Dies stellt uns vor tiefgreifende gesellschaftliche Fragen. Wir müssen in den nächsten Monaten und Jahren zwingend folgenden Diskurs führen: Wie weit geht die Verantwortung des Staates für die Gesundheit seiner Bürger und wo beginnt die individuelle Eigenverantwortung? Was ist Sinn und Zweck einer Sozialversicherung? Welche soziale Krankenversicherung wollen wir uns leisten und welche Leistungen sollen daraus bezahlt werden? Wie hoch darf der Preis dieser Leistungen sein?

Diese – zugegebenermassen nicht ganz einfachen – Antworten auf die anstehenden Fragen erfordern eine breite gesellschaftspolitische Diskussion. Dabei müssen das Wohl der Gesellschaft und die Unterstützung für kranke Menschen im Vordergrund stehen. Inwiefern und inwieweit wir alles finanzieren können und wollen, was auch technisch machbar scheint, soll sich nicht auf die Frage beschränken, ob die soziale Krankenversicherung eine Leistung zu einem geforderten Preis zu entgelten habe. Man könnte sich nämlich auch darüber unterhalten, ob andere Finanzierungsmöglichkeiten bereitgestellt werden sollten.

Eine Reduktion des öffentlichen Diskurses auf die reine Kosten- oder Finanzierungsfrage greift auf jeden Fall zu kurz. Nur eine breite gesellschaftspolitische ­Diskussion über allfällige Zugangsbeschränkungen zu innovativen Produkten und neuartigen Behandlungsmöglichkeiten führt zur erwünschten demokratischen Legitimierung von nachhaltigen und gesellschaftlich sowie demokratisch tragfähigen Lösungen. Die aktuelle Situation, in der für jeden einzelnen Fall indivi­duelle Lösungen gesucht werden müssen, ist unbefriedigend und langfristig nicht akzeptabel.

Korrespondenzadresse

Dr. Carlo Conti
Aeschenvorstadt 55
CH-4010 Basel
carlo.conti[at]wenger-plattner.ch

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