Über das Impfen

Zu guter Letzt
Ausgabe
2019/25
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17882
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(25):868

Affiliations
Prof. Dr. rer. soc., Redaktor Kultur, Geschichte, Gesellschaft

Publiziert am 18.06.2019

In den letzten Monaten ist das Thema «Impfen» wieder einmal breit durch die Medien nicht nur der Schweiz gegangen. Auslöser waren diesmal unter anderem ­aktuelle Masernfälle. Der mediale Hype um das Impf­thema ist nichts Neues. Das zeigt allein schon ein Blick in ältere Ausgaben der SÄZ. In den letzten Jahren wurden dort etwa die Impf-Empfehlungen der Stiftung für Konsumentenschutz, die Kampagne zur Elimination der Masern in der Schweiz bis 2015 oder die impfrelevanten Artikel des revidierten eidgenössischen Epidemiegesetzes intensiv verhandelt – und dies nicht nur bezogen auf den Umfang.
Genau genommen ist das Sprechen über das Impfen seit mehr als zweihundert Jahren, als die ersten Impfungen eingeführt wurden, eine recht aufgeregte ­Debatte. Warum aber ist das so? Eine Erklärung ist für mich, dass das Thema «Impfen» einen Kreuzungspunkt darstellt, an dem unterschiedlichste Grundüberzeugungen und Denksysteme so hart wie sonst kaum in der Medizin aufeinandertreffen und Grundfragen der Medizin deshalb auch mit den entsprechenden Emotionen oder Intensitäten verhandelt werden. Um das nachzuvollziehen, lässt man die Frage, wer ­dabei mehr recht hat, besser erst einmal ausser Acht.
Impfungen waren und sind eine Art Essenz von dem, was moderne, rational orientierte Medizin insbesondere seit dem späten 19. Jahrhundert ausmachen soll: systematisch und kontrolliert mit effizienten Methoden gegen Krankheiten von einzelnen und vielen vorgehen, am besten noch bevor sie ausbrechen. In der Vorbeugung und schliesslich der Verdrängung der ­Pocken spiegelte sich lange ein grosser Stolz eines ganzen Berufsstands. Die Eliminierung von Krankheiten war immer auch eine gewaltige Utopie der Medizin. Skepsis oder Kritik daran werden neben vielem anderem auch als Zweifel am grundsätzlichen Selbstverständnis dieser Medizin verstanden.
Impfungen sind aber auch ein Paradebeispiel einer interventionistischen Medizin, nicht zuletzt eines Eingriffs in den menschlichen Körper, umso eindrück­licher, wenn dies ganz plastisch über die Grenze der menschlichen Haut läuft; früher mit Inzisionen, heute mit Injektionen. Impfungen sind in diesem Sinne auch ein Kristallisationskern unterschiedlicher Vorstellungen für die Frage, welche Rolle der menschliche Körper, «Natur» oder «Natürlichkeit» in welcher Form in der Medizin spielen soll und wie eingreifend, «künstlich» oder «synthetisch» die Impfung sein soll oder darf.
In den Debatten um Impfungen treffen unterschiedliche Vorstellungen von Risiko aufeinander. Wie werden die Gefahren einer Krankheit oder ihrer Vorbeugung jeweils gewichtet und gegeneinander abgewogen? Geht es um das Risiko für eine einzelne Person oder für eine Gruppe? Wird das Risiko aus einer Aussensicht betrachtet oder aus der Perspektive des Individuums selbst? Der abstrakte Begriff des Risikos ist zudem eng mit dem konkreten Gefühl der Angst verbunden, was die Debatte schnell emotionalisiert.
Unterschiedliche Bewertungen von Impfungen konfrontieren uns darüber hinaus mit der Frage, wie ­plural unser Gesundheitssystem sein soll und wo die Grenzen der Pluralität gezogen werden.
Impfungen betreffen mehr als nur die Medizin. Impfungen werfen (über das Thema der Impfpflicht) immer auch die Frage auf, welche Rolle das Individuum im Vergleich zur ganzen Gesellschaft spielt. Eine der Grundfragen unseres Zusammenlebens. Wann darf, soll oder muss das Kollektiv in die Autonomie des Einzelnen eingreifen und wann besser nicht? Wie absolut ist der Wert «Gesundheit» im Vergleich zu anderen Werten wie der individuellen Freiheit? Wie ist das ­Verhältnis zwischen Gesundheitslogik und Freiheitsrechten?
Dies ist kaum mehr als eine Auflistung einiger Stichworte. Jedes von ihnen vermag emotionalisierte Debatten auszulösen. Untereinander beeinflussen sie sich wie in einem Mobile.
Das Impfen war und ist ein medizinischer Hotspot, weil es einen Kristallisationskern grundsätzlicher und verschachtelter Fragen der Medizin darstellt, die jeweils unterschiedlich gelesen werden: Utopien und Dystopien, Effizienz und Pluralität, Sicherheit und ­Risiko, Intervention und Natürlichkeit, Individuum und Gesellschaft, Freiheit und Verantwortung. Der jüngste Medienhype um das Impfen wird nicht der letzte gewesen sein.
eberhard.wolff[at]saez.ch