Trübe Quellen

Horizonte
Ausgabe
2019/34
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17911
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(34):1136-1137

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 20.08.2019

Oswald Spenglers Bestseller von 1922, Der Untergang des Abendlandes, war typisch für den weitverbreiteten Kulturpessimismus. Geld und Technik würden die Welt dominieren und eine Phase des Niedergangs die faustisch-abendländische Kultur beenden. Ähnlich äus­serten sich Ernst Jünger, Martin Heidegger, Alexis Carrel und viele andere.
Alexis Carrel (1873–1944) erhielt 1912 den Nobel­preis für Medizin und Physiologie.
Die Moslembrüder, Al Kaida, Khomeini, der Mouvement National, die AfD und viele weitere radikale Organisationen in Ost und West sind vom Weltbild der genannten Autoren beeinflusst. Was sie alle verbindet, ist die Ablehnung demokratischer Einrichtungen, des Liberalismus, des Technizismus und der Emanzipation. Die Suche nach Alternativen wird getragen von einer regressiven und autoritären Sehnsucht nach einer homogenen, konfliktfreien Gemeinschaft. Ein Programm der Gegenaufklärung ist die Folge, eine Absage an Poppers offene Gesellschaft.
Schriften Jüngers und Heideggers beeinflussten über iranische Studenten wie Ahmad Fardid (1910–1994) die schiitische Theologie. Die Dekadenz des Westens, als abschreckendes Beispiel, führte zu Schlagworten wie Occidentose gleich Tuberkulose, Occidentosis und Westoxifikation. Eine Ideologie, die zum Sturz des Schahregimes beitrug.
Alexis Carrel (1873–1944) wurde in den 1950er Jahren zum geistigen Vater islamistischer Gruppierungen. Carrel erhielt 1912 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie. Der in den USA forschende französische Chirurg war ein Wegbereiter moderner Gefässtechnik, ein Pionier der Herzchirurgie und Organverpflanzung. Als Sanitätsoffizier im Ersten Weltkrieg verbesserte er die Wundbehandlung, notabene mit Hilfe tüchtiger Krankenschwestern aus der Pflegerinnenschule La Source in Lausanne, die ihm sein Freund Theodor Kocher vermittelte. Einer breiten Öffentlichkeit wurde Carrel 1935 mit seinem Buch Man, the Un­known bekannt. Der Mensch, das unbekannte Wesen, in 19 Sprachen übersetzt und millionenfach bis in die 1950er Jahre verkauft. Bereits in der Vorrede spricht er von der Notwendigkeit, die industrielle Zivilisation über Bord zu werfen, um eine neue Form des menschlichen Fortschritts heraufzuführen. Ein Buch, das wissenschaftliche Entdeckungen, vor allem der Medizin und Physiologie, hervorragend beschreibt, die Annehmlichkeiten des technischen Alltags betont, um dann vehement die mangelnde Moral und Spiritualität einzufordern, die beim materiellen Streben zu kurz kämen. Die sittenlose Gesellschaft wird in den düstersten Farben geschildert, Folgen seien die rasante Zunahme der Geisteskranken und Minderwertigen und eine allgemeine Verkümmerung der Individualität. Das demokratische Prinzip habe den Zusammenbruch der Kultur mitverschuldet, indem es sich der Ausbildung einer Elite entgegenstellt, denn die Gleichheit der Rechte sei eine Illu­sion. Eine zukünftige medizinische, asketische Elite solle das Wissen vom Menschen vorantreiben, um den vom modernen Leben geschwächten und genormten Menschen in der Fülle seiner Persönlichkeit wiederherzustellen. Eugenik sei dazu da, die Tüchtigen und Gesunden vor degenerierten Elementen mit drastischen Eingriffen zu schützen. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges kehrte Carrel nach Frankreich zurück. Er wählte nicht de Gaulle, sondern Pétain. Vichy-Frankreich, dankbar für den prominenten Mitläufer, machte ihn zum Chef einer gut dotierten Stiftung für das Studium der Probleme des Menschen in Paris.
Der Ägypter Sayyid Qutb (1906–1966) wurde nach ­einem USA-Aufenthalt, wo er die Schriften Carrels ­kennenlernte, zum Propagandachef der 1928 gegründeten Bruderschaft der Muslimbrüder. Vor seiner Hinrichtung durch Nasser schrieb er im Gefängnis einen umfangreichen Korankommentar, von dem 1964 ein ­Kondensat mit dem Titel Wegzeichen erschien, eine Pflichtlektüre für die Avantgarde der muslimischen Wiederauferstehung. Die elitäre Lebensphilosophie des konservativen Katholiken Carrel hat Qutb in vielen ­Korankommentaren übernommen: die Ablehnung der westlichen Moderne, die sich im Zustand der Barbarei befinde, die Ablehnung aller säkularen Institutionen, die Ablehnung der Menschenrechte und die klare Dominanz des Mannes über die Frau. Ein gottgegebener Weltentwurf ist nicht diskutabel, die Freiheiten einer vielgestaltigen Gesellschaft widersprechen dem Gehorsam vor den Gesetzen Gottes. Theokratie anstelle von Biokratie. Carrel und Qutb sind sich einig: Der säkulare Industriestaat entspricht nicht unserer wahren Natur, Wissen und Glauben sind als Einheit wiederherzustellen.
Die suggestiven Endzeitvisionen Spenglers entsprachen dem weitverbreiteten Geschichtspessimismus in Europa, und dieser wiederum fand ein Echo im Lebensgefühl arabischer und iranischer Intellektueller. Die soziale Transformation der muslimischen Welt durch die Modernisierung und Kolonisierung führte zu einer Entwurzelung und Orientierungslosigkeit. Vordenker wie Ahmad Fardid und Sayyid Qutb bekämpften die sozialen und politischen Folgen eines Prozesses der Verwestlichung. Im Gegensatz zu Hei­degger handelte Carrel nicht antisemitisch. Typisch für die extreme Rechte im Westen und radikale Islamisten im Osten ist heute die Ablehnung einer kapitalistischen Warengesellschaft, die als jüdisch personifiziert wird.
Die Gedanken sind frei, Bücher gehen ihre eigenen Wege. Im Spiegel der anderen erkennen wir uns überraschend selbst. Les extrêmes se touchent, gestern und heute.
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