Zeit.

Zu guter Letzt
Ausgabe
2019/26
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17944
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(26):916

Affiliations
Leiterin Abteilung Kommunikation der FMH und Mitglied der Redaktion

Publiziert am 25.06.2019

In seinem Buch Wunder wirken Wunder sagt Eckart von Hirschhausen, Arzt und Komiker, er habe sein ganzes Medizinstudium lang darauf gewartet, dass ihm ein gelehrter Professor erklärt, wieso der Schmerz ­Namens «Aua» einfach durchs Fenster ­hinausfliegen kann, wie es ihm seine Mutter stets erklärt hatte. Denn er wusste doch, seit er klein war und seine Mutter den Schmerz von seinem aufgeschürften Knie weggepustet hatte, dass es wahr ist. Manchmal, sagt er, brauche es eben nur jemanden, der dich in den Arm nimmt und pustet. Menschlichkeit.
Verschiedene Studien aus den USA zeigen, dass Ärzte, die sich Zeit für ihre Patienten nehmen und so auch Empathie zeigen können, weniger Burn-outs erleiden und dass die Resultate der medizinischen Behandlung für die Patienten messbar besser sind [1, 2]. 56 Prozent der Ärztinnen und Ärzte in der Studie [3] sagten aber, sie hätten leider keine Zeit für Empathie. Auch bei ­chirurgischen Eingriffen nach Unfällen fördert ärzt­liche Empathie offenbar bei den Patienten die positive ­subjektive Einschätzung des Behandlungserfolgs [4]. Empathie.
Solange wir Menschen sind, wird man Medizin nie von Menschlichkeit trennen können. Jeder Mensch, gerade wenn er krank ist und leidet, will ernst genommen werden und sich verstanden fühlen. Verständnis.
Die geschätzte Zeit, welche sich eine Ärztin oder ein Arzt laut Patient für ihn genommen hat, ist gemäss ­Erhebungen in Patientenbefragungen [5] direkt korreliert mit der Zeit, in der sie oder er ihm zugehört hatte. Zeitdruck führt zu unnötigen und teuren Untersuchungen. Wie viel Geld und Leid kann uns eine Fehl­diagnose kosten? Zuhören.
Weitere Studien zeigen, dass die Beziehung und das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient die ­Therapietreue beeinflussen. Anfang 2018 publizierte santé­suisse Zahlen von Kosten in Milliardenhöhe, die durch Therapie­untreue verursacht würden [6]: «Wenn allein schon nur 110 000 aller chronisch kranken Patienten in der Schweiz ihre Therapietreue verbessern würden, liessen sich jährlich fast 4 Milliarden Franken sparen» [7]. Wenn eine Ärztin sich die Zeit nehmen kann, einem Patienten alles genau zu erklären, ist die Chance grös­ser, dass dieser seine Therapie nicht abbricht, Medikamente richtig einnimmt und die Einnahme aufrechterhält. Dazu muss der Patient verstehen, wozu er ein Medikament nimmt und wie es wirkt. Vertrauen.
Wenn man Schweizerinnen und Schweizer fragt, was ihnen wichtig ist, wenn sie eine Ärztin oder einen Arzt aufsuchen, rangiert unter den meistgenannten Argumenten von Jung bis Alt, bei guter oder schlechter Gesundheit, das Empfinden, dass der Arzt sich Zeit für sie genommen hat [8].
Zahlreiche Studien zeigen die Korrelation und die Zusammenhänge zwischen psychischem und physischem Wohlergehen, zwischen psychischen und physischen Schmerzen. Wir wissen es und wir fühlen es. Und dennoch greift der Tarifeingriff des Bundesrates, der Anfang letzten Jahres in Kraft getreten ist, genau dort ein und limitiert genau das, was Patienten und auch Ärztinnen und Ärzten offensichtlich so zentral wichtig ist: die ihnen zur Verfügung stehende Zeit.
Am 20. Oktober 2019 werden in der Schweiz die neuen Vertreterinnen und Vertreter im Parlament gewählt. Und Sie alle, liebe Leserinnen und Leser, werden dann die Wahl haben.
In diesem Sinne wünsche ich mir für die Zukunft von der Politik etwas mehr Nach- und Weitsicht, zum Beispiel in Bezug auf das, was uns allen, Ärzten sowie auch Patienten, offensichtlich ein grosses Anliegen ist: Zeit für Menschlichkeit, für Empathie, Zeit zum Zuhören, Zeit, Vertrauen aufzubauen, und Zeit dafür, in schwierigen Zeiten auch einmal etwas grosszügiger und geduldiger zu sein.