Medizin, Pflege und Theologie: Skizzierung eines notwendigen Dialogs

Tribüne
Ausgabe
2019/33
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17945
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(33):1087-1089

Affiliations
a MA, Theologin, Clinical Pastoral Training; b Dr., Fachärztin für Kardiologie; c Dr., Assistenzarzt Innere Medizin, CHUV

Publiziert am 13.08.2019

Unser Gesundheitssystem steht heute zahlreichen enormen Herausforderungen gegenüber: die Auffassung von Gesundheit und Krankheit in der Gesellschaft, demographische und wirtschaftliche Zwänge, Prävention aus salutogenetischer Sicht, Zugang zur Pflege für die bedürftigen Bevölkerungsgruppen, Stellenwert des Menschen in einer technisch immer leistungsstärkeren Medizin. Jedes Mal stellen sich folgende Fragen: Wer möchte welche Medizin, welche Pflege und zu welchem Zweck? Und jedes Mal ist es ein Bild des Menschen, des Sinnes einer besonderen Existenz, ja sogar des Lebens allgemein sowie dessen, was ein «gutes Leben» oder ein «guter Tod» ist, das zwischen den Zeilen hervorscheint.
Die Theologie, die an dieser Stelle als akademische Disziplin verstanden wird, die auf geistes- und sozialwissenschaftliche Methoden zurückgreift, um die verschiedenen Aspekte des Glaubens1 in Raum und Zeit zu untersuchen, darf nicht gleichgültig bleiben. Sei es, um spirituelle Begleiter2 auszubilden, bei denen es sich um christliche Seelsorger handeln kann, um an den ethischen Debatten teilzunehmen oder um dazu aufzufordern, die eigene Sichtweise in Bezug auf die Erfordernisse «an Ort und Stelle» zu hinterfragen, verfügt die Theologie über Werkzeuge, die es einem ermöglichen, diese Fragen zu begreifen [1].
Somit werden konkrete Fragen aufgeworfen, welche die Theologie mit ihren eigenen Methoden aufgreift, bevor sie Lösungen anbietet, die in der Praxis erprobt werden müssen, um anschliessend erneut überarbeitet, angepasst und aktualisiert zu werden. Dieses Hin und Her erfordert eine interdisziplinäre und interprofessionelle Praxis, in der jeder zu bereichernden «Dezentrierungen» und «inneren Verschiebungen» angehalten ist, wie wir im vorliegenden Artikel versuchen werden zu zeigen.

Pflegen und betreuen

Angesichts einer unaufhörlich steigenden Nachfrage, die in einen Zustand der Überlastung mündet, sehen sich Ärzte und Pfleger zu häufig gezwungen, die dringendsten Fälle zu behandeln und sich auf die biologische Dimension zu beschränken. Die Lebensqualität – das Ziel jeder Betreuung – hängt jedoch nicht von der Qualität der Betreuung des Körpers allein ab, sondern von der Betreuung des Menschen in all seinen Dimensionen (biologisch, psychosozial und spirituell, wie die WHO anmerkt [2]). Denn aus jeder dieser Dimen­sionen kann Leiden entstehen und für jede können Ressourcen entdeckt, gefördert und sogar entwickelt werden.
Das Team kann das theologische Wissen des Seelsorgers nutzen, um die möglichen spirituellen Probleme zu begreifen, die das Unbehagen des Patienten zugrunde liegen. Führt die Konfrontation mit dem Absurden in Verbindung mit der Krankheit zu einer tiefgreifenden Hinterfragung dessen, woran er geglaubt hat, seiner Vorstellung des «Übermenschlichen», seiner Gewissheiten in Bezug auf Zweck und Bedeutung seiner eigenen Existenz? Verspürt er Wut auf «Gott» und ein Gefühl der Ungerechtigkeit? Bezieht er sich auf implizite Wertsysteme (jüdisch-christliche oder andere)? Wurden oder werden sie als Antrieb oder im Gegenteil als Bremse, als Zwang empfunden? Insgesamt gilt es, ein besseres Verständnis für die tiefen Bedürfnisse des ­Patienten zu entwickeln, wie seine «Blockaden» und Ressourcen, um die Betreuung entsprechend anzu­passen. Die Interprofessionalität vereint somit die Kompetenzen der verschiedenen Akteure aus dem Pflegewesen, einschliesslich Seelsorger.
Für jede Dimension gibt es Spezialisten, die herangezogen werden können, um den Patienten zu «betreuen» und nicht nur zu «pflegen» im Sinne einer technischen Handlung. Die Theologie bietet ihre Kompetenzen an, um die spirituelle Dimension zu verstehen, und ermöglicht durch die von ihr gebotene Abstandnahme, darauf zu achten, dass die Einbindung dieser Dimension nicht medikalisiert oder instrumentalisiert wird.

Beruf und Kunst

Auf die schwerwiegenden Veränderungen, zu denen es infolge der Feststellung einer schweren bzw. chronischen Krankheit bei einem Patienten kommt, kann man auf zwei verschiedene Arten reagieren: begleiten oder flüchten, d.h. nicht verstehen (wollen). Nun steckt unter dem weissen Kittel aber auch ein Mensch, der ebenfalls Zweifel hat und Leiden verspürt, auch angesichts seiner Machtlosigkeit gegenüber dem Unglück des anderen. Die Auseinandersetzung mit den «gros­sen» Fragen des Seins und das Anzweifeln der eigenen Gewissheiten, wie z.B. der eigenen Wertehierarchie, welche die Feststellung einer schweren oder chronischen Krankheit bei einem Patienten unweigerlich mit sich zieht, kann bei den Fachleuten eine Resonanz hervorrufen. Die Eignung, den Patienten bei der Integration und Akzeptanz dessen, was ihm geschieht, zu begleiten, erfordert, dass sie sich selbst mit der Frage der Endlichkeit und dem, was sie impliziert, auseinandergesetzt haben. Über die eigene Verletzlichkeit nachzudenken bedeutet, auch in der Machtlosigkeit einen Sinn zu finden, und ist die Voraussetzung dafür, die Verletzlichkeit anderer nicht als einen Misserfolg, ein unbedingt zu behebendes Manko, sondern als eine Öffnung zur Möglichkeit einer tiefen Begegnung zu verstehen.
Zuhören, gegenseitiges Verständnis für unsere jewei­ligen Verwundbarkeiten und Hilfsbereitschaft sind ­unabdingbar für die gesamtheitliche Betreuung. Dies sind die Werte im Mittelpunkt einer relationalen Ethik für Ärzte und Pfleger, die es in der Medizin zu formulieren und zu konkretisieren gilt, nicht nur zum Wohle der Patienten sondern auch der Ärzte und Pfleger. Indem man sich mit Hilfe des theologischen Prismas, das diese Werte ins Verhältnis setzt, von den Situationen distanziert, können Ärzte und Pfleger einen stärkeren Akzent auf Menschlichkeit legen. Dies trägt dazu bei, ihrer Arbeit (wieder) einen Sinn zu geben, und fördert den Übergang vom Beruf zur Kunst.
Die christliche Theologie stützt sich nicht nur auf die Analyse einer langen Praxiserfahrung bei der individuellen und gemeinschaftlichen spirituellen Begleitung, um mögliche Lösungen vorzuschlagen, sondern auch auf zahlreiche Arbeiten im Rahmen des Zuhörens, der bedingungslosen Aufnahme und des Mitgefühls, die nicht nur im Christentum grundlegende Werte darstellen. Diese Ressourcen sind in vollem Umfang vereinbar mit einer nicht religiösen Gesundheitseinrichtung.

Erzählungen und Metaphern

In den letzten Jahren hielt ein neuer Ansatz Einzug in die medizinische Ausbildung: die narrative Medizin [3]. In dem Wissen, dass die therapeutische Allianz zwischen Ärzten und Patienten durch ein verbessertes ­Zuhören gestärkt wird, versucht die narrative Medizin, den Erzählungen des Patienten über seine Krankheit einen grösseren Stellenwert einzuräumen. Darüber hin­aus geht es darum, beim Arzt die Fähigkeit zu fördern, sich seiner eigenen Gefühle, d.h. seiner Verletzlichkeit, bewusst zu werden, insbesondere mit Hilfe des reflexiven Schreibens.
Bei den Ärzten und Pflegern gilt es, eine Sensibilität für die narrative und metaphorische Dimension zu fördern, um sich selbst auszudrücken, das eigene Selbst zu stärken und einen Sinn aufzubauen. Die Lebens­geschichte liefert häufig entscheidende Hinweise für die gesamtheitliche Betreuung. Die vollständige Betrachtung des Patienten mit seinen Beschwerden, seinen Symptomen und seiner Lebensgeschichte ermöglicht es einer therapeutischen Allianz guter Qualität, über das rein Biologische hinauszusehen. Die Ärzte und Pfleger, die der Geschichte der Patienten aufmerksam zuhören, interessieren sich dann durchaus auch für die spirituelle Dimension.
Dies impliziert auch, dass sich Ärzte und Pfleger bewusst sind, dass ihre Sichtweise durch die spezifischen Theorien ihrer Ausbildung beeinflusst und gebildet wird: beispielsweise die grundlegenden Bedürfnisse des Menschen nach Virginia Henderson in der Krankenpflege, das Evidence-based Model in der Medizin, freudsche oder rogerianische Ansätze oder kognitive Verhaltenstherapie in der Psychotherapie. Dies alles sind «Erzählungen», die als mehr oder weniger implizite Referenzen dienen.
Die Theologie arbeitet ihrerseits an und mit den tiefgreifenden Erzählungen, die über persönliche Erfahrungen und Gefühle des menschlichen Lebens berichten und dazu beitragen, die Identität jener zu formen, die auf sie Bezug nehmen. Sie verfügt daher über symbolische und sprachliche Mittel, um eine narrative Ethik anzubieten und über die therapeutischen Dimensionen der Worte nachzudenken, die zwischen den Akteuren des Gesundheitssystems, zu denen wir alle gehören, aus­getauscht werden. Die Art und Weise über Leiden zu sprechen erzählt eine Lebensgeschichte, die integraler Bestandteil des allgemeinen Gesundheitszustandes des Menschen ist. Darüber hinaus muss die jeder Tradition oder Kultur eigene Anthropologie mit den der Medizin eigenen Theorien in Dialog gestellt werden, um das gegenseitige Verständnis zwischen Patienten, Ärzten und Pflegepersonen zu verbessern.

Leiden und Hoffnung

In der täglichen Konfrontation mit dem Leiden müssen Ärzte und Pfleger für sich selbst und ihre Patienten Ressourcen entwickeln, die eine salutogenetische Sicht ermöglichen. Theologisch gesprochen verleiht eine solche Sichtweise, welche untersucht, was gesund ist und als Stärke entwickelt werden kann, Hoffnung: Ungeachtet seiner Einschränkungen wird der Mensch in seinen verschiedenen Dimensionen als ein einzigartiges und kostbares Wesen gesehen, im möglichen Wachstum, im ständigen Werden.
Eine Reflexionssitzung mit dem Titel «Altruismus und Gesundheit» findet am 2. November 2019 in Lausanne statt. Weitere Informationen finden Sie auf der Website http://www.unil.ch/iltp
Hoffen bedeutet nicht, die Realität des Leidens zu beseitigen, das – im Gegenteil – begleitet und durch die gesamte Gesellschaft getragen werden muss. Angesichts der Neigung des Bösen und des Leidens, den gesamten «Raum» einzunehmen, ist es besonders wichtig, Grenzen zu setzen und Mediationen zu suchen. Auf dem Gebiet bietet der Seelsorger die Möglichkeit, einen günstigen Rahmen für eine dynamische Beziehung zu schaffen, mit der Mediation durch eine dritte Instanz, in diesem Fall eine Transzendenz. Diese Transzendenz ermöglicht es, an einen Raum zu denken, in dem das gemeinsam gelebte Leiden sowohl betreut als auch überwunden wird.
Die Theologie beschäftigt sich ihrerseits mit dem Pro­blem des Bösen und seinen verschiedenen Manifestationen, ohne jedoch Antworten geben zu wollen. Sie ­erforscht die verschiedenen Strategien, die spirituelle Ressourcen darstellen oder die im Gegenteil dazu beitragen, tödliche Blockaden aufrechtzuerhalten (z.B. bestimmte Vorstellungen von Sünde, Schuld oder Be­strafung). Insbesondere in der christlichen Theologie umfasst sie eine Vorstellung von der menschlichen Gemeinschaft mit ihren geteilten Freuden und Leiden als einem Ort der Versöhnung und Heilung über die bio­logische Dimension allein hinaus. Sie neigt auch dazu, die Modalitäten der dreifachen Beziehung zu sich selbst, zu den anderen und zur Welt unter dem Horizont einer Transzendenz hervorzuheben, wodurch ein spezifisches Licht auf jede Formulierung einer Beziehungsethik geworfen wird. Mitgefühl, Liebe, Hoffnung und Vertrauen spielen hierbei die Schlüsselrollen.

Vom Gesundheitssystem zur Gesellschaft

Das Gesundheitssystem und die Medizin, Mikrokosmen der menschlichen Stärken und Schwächen, so wie jeder spezifische «Ort», sind ein Spiegelbild der Gesellschaft, in der sie existieren und die sie «absondert». Gesellschaft und Gesundheitssystem interagieren dynamisch. Die Förderung der Akzeptanz der Verletzlichkeit bei Ärzten und Pflegepersonal, das Bewusstsein für Grenzen, das Zuhören und die Gewogenheit sind Möglichkeiten, zur Entwicklung einer Gesellschaft beizutragen, in der wir uns um uns selbst und um die anderen kümmern.
Die wirtschaftlichen Zwänge, die Überalterung der Bevölkerung und die biotechnologischen Entwicklungen werfen Fragen in Bezug auf die Verteilung der Ressourcen und die gewünschten medizinischen Modelle auf. Die Theologie ist es sich schuldig, die anthropologischen, ethischen und existentiellen Probleme herauszustellen, welche die verschiedenen Modelle bergen. Sie schlägt vor, sich von einer rein binären Sichtweise hinsichtlich des Umgangs mit dem Leben, mit dem Tod, mit der Gesundheit, mit der Heilung und mit der Krankheit zu lösen. Sie begreift und behandelt Verletzlichkeit nicht als eine Niederlage, sondern als eine Öffnung zu ungeahnten Möglichkeiten. Sie erörtert den Begriff der Gerechtigkeit mit Worten, welche Verteilungs- und Vergeltungslogik in Frage stellen. Sie tritt ein in eine Debatte mit Allmachtsansprüchen, mit dem Szientismus und dem Materialismus. Schlussendlich verfügt sie über tiefgreifende Erzählungen, die versuchen, die grundlegenden Gefühle und Erfahrungen des Lebens in Worte zu fassen.
Der Dialog zwischen Medizin, Pflege und Theologie hat gerade erst begonnen.3 Möge er zum grössten Nutzen aller Akteure des Gesundheitswesens, zu denen wir alle gehören, intensiviert werden.
Dr. med. ­Marc-Antoine ­Bornet
Service de médecine interne
Rue du Bugnon 46
CH-1011 Lausanne
Marc-Antoine.Bornet[at]chuv.ch
1 Für eine Einführung in diese Art von Fragestellung: Jobin G. Des religions à la spiritualité. Une approche biomédicale du religieux dans l’hôpital. Namur: Lumen Vitae; 2012.
2 Weltgesundheitsorganisation. Bangkok Charta für Gesundheitsförderung in einer globalisierten Welt (Online). Genf: Weltgesundheitsorganisation; 2005 [zitiert am 29.4.2019]. Einsehbar unter: https://www.who.int/healthpromotion/conferences/6gchp/BCHP_German_version.pdf?ua=1
3 Goupy F, Le Jeunne C. La médecine narrative. Une révolution pédagogique? Paris: Med-Line; 2017.