Jahresversammlung 2019 der mws ärztinnen schweiz zum Thema «Sexuelle Belästigung von Ärztinnen am Arbeitsplatz»

#MeToo – WeToo?

Organisationen der Ärzteschaft
Ausgabe
2019/25
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17966
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(25):838-840

Affiliations
a Dr. med., Vorstandsmitglied mws; b lic. iur., Rechtsanwältin, Geschäftsführerin mws

Publiziert am 18.06.2019

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist in aller Munde. Eine repräsentative Statistik zur Betroffenheit von Ärztinnen existiert jedoch nicht. Tatsache ist, dass viele Kader den Eindruck haben, dass ihr Unternehmen weniger betroffen ist als andere, und für sich keinen Handlungsbedarf sehen. Sensibilisierung und Schulung bleiben daher weiterhin aktuell. Ausserdem müssen Betroffene, Frauen und Männer, ermutigt werden, ihrer subjektiven Wahrnehmung ohne Schuldgefühl und Scham zu folgen und Konsequenzen einzufordern.

Widersprüchliche Ausgangslage und mangelnde Daten

Die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist durch das Gleichstellungsgesetz (GlG) definiert (siehe Kasten). ­Sexuelle Belästigung, auch unter Personen gleichen Geschlechts, ist entwürdigend und diskriminierend. Das GlG verpflichtet deshalb die Arbeitgebenden, Massnahmen dagegen zu ergreifen.

Art. 4 Gleichstellungsgesetz

Diskriminierung durch sexuelle Belästigung
Diskriminierend ist jedes belästigende Verhalten sexueller Natur oder ein anderes Verhalten aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit, das die Würde von Frauen und Männern am Arbeitsplatz ­beeinträchtigt. Darunter fallen insbesondere Drohungen, das ­Versprechen von Vorteilen, das Auferlegen von Zwang und das Ausüben von Druck zum Erlangen eines Entgegenkommens ­sexueller Art.
Angeregt durch die #MeToo-Debatte war Ziel der diesjährigen Jahrestagung der mws, der Frage nachzugehen, inwieweit Ärztinnen in der Schweiz von sexueller Belästigung betroffen sind und welche Strukturen für Betroffene vorhanden sind.
In der Vorbereitung zur Tagung wurde zunächst vergeblich nach einer verfügbaren Statistik gesucht. In der Folge wurden stichprobenartig die Personal­abteilungen einiger Spitäler sowie der VSAO, ReMed und die Fachstelle für Gleichstellung des Kantons Zürichs nach der Anzahl Meldungen sexuell belästigter Ärztinnen über die letzten zehn Jahre angefragt. Das Resultat reichte von keiner Reaktion der angefragten Stelle, ­einer Schätzung oder einer Nullmeldung bis hin zur Zahl «fünf Fälle». Eine brandaktuelle von Amnesty International publizierte Studie (59% der befragten Schweizer Frauen haben bereits sexuelle Belästigung erlebt) [1] bestätigt aber den Eindruck, der durch eine grobe Umfrage unter Kolleginnen im Vorfeld der ­Tagung und an der Jahrestagung selber gewonnen wurde: Zahlreiche Ärztinnen sind von der Problematik betroffen.
Diese frappante Diskrepanz zwischen der von Ärztinnen geäusserten Betroffenheit und der fehlenden ­Bekanntheit der Belästigungen bei offiziellen Stellen sollte an der Tagung diskutiert werden.
Eingeladen waren ausgewiesene Expertinnen zum Thema, die im Anschluss an ihre Einzelvorträge mit den mws-Mitgliedern und den eingeladenen Präsidentinnen des deutschen und des österreichischen Bundes der Ärztinnen, Dres med. Christiane Gross und Edith Schratzberger-Vécsei, im Podium diskutierten. Im Folgenden werden wichtige Aussagen aus den Referaten und dem Podium zusammengefasst.

Résumé

Différents sondages, non représentatifs, laissent supposer qu’une majorité de femmes médecins ont été confrontées au harcèlement sexuel une fois au moins dans leur vie professionnelle. La seule et unique étude du FNS sur le sujet montre que les femmes et les hommes n’analysent pas de la même façon un comportement discriminant, notamment le harcèlement sexuel, et que les femmes se sentent plus menacées que les hommes. Tout le monde s’accorde à dire qu’un climat de travail respectueux et des cadres supérieurs ayant une position claire, qui proscrit tout harcèlement sexuel, sont des moyens de prévention importants. Cependant, beaucoup de cadres ne constatent aucun problème dans leur établissement et ont l’impression que les autres sont plus touchés qu’eux. Souvent, le besoin d’agir dans sa propre structure n’est donc pas identifié.
La loi sur l’égalité impose à l’entreprise qui emploie de veiller à garantir un environnement sans discrimination au sein du personnel. En cas de harcèlement sexuel, la situation doit être analysée en détail et avec objectivité.
En s’appuyant sur les dernières découvertes, l’association mws plaide en faveur d’une étude statistique sur le harcèlement sexuel des femmes médecins sur leur lieu de travail. Elle incite les entreprises à analyser de façon plus objective le besoin d’action et à profiter des offres de formation des sociétés de discipline médicale pour prôner l’égalité entre les cadres. Grâce à des règlements applicables, des points d’accueil neutres doivent être créés, et le personnel doit être sensibilisé à cette question.

Der Blick der Organisationspsychologie

Franciska Krings, Professorin für Organisationspsychologie der Universität Lausanne, ist Co-Autorin der SNF-Studie Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz: Wer belästigt wen, wie und warum? Besseres Verständnis heisst wirksamere Prävention.
Aus dieser Studie des Jahres 2013 [2] geht u.a. hervor, dass sexuelle Belästigung von beiden Geschlechtern ausgehen kann, Frauen jedoch potentiell belästigendes Verhalten eher als solche wahrnehmen als Männer. Entgegen landläufiger Vorstellung geht sexuelle Belästigung häufiger von Kolleginnen und Kollegen als von Vorgesetzten aus (50% versus 12%). Es zeigt sich hierbei, dass das Arbeitsklima einen signifikanten Einfluss auf das Aufkommen von sexueller Belästigung hat.
Krings betrachtet sexuelle Belästigung mehr als Ausübung von Macht und Angriff auf die Identität denn als Aktivität in tatsächlichem Zusammenhang mit Sexualität. Bereits ein feindseliges Arbeitsklima bildet somit die Grundlage für sexuelle Belästigung. Beide Geschlechter gaben in der Studie an, dass sie sexuelle Belästigung als für das Arbeitsklima schädlich beurteilen. Es liegt daher in der Verantwortung der Kader, über die Unternehmenskultur präventiv gegen sexuelle Belästigung zu wirken. Eine Herausforderung ist hierbei, dass zwar 80% der befragten Kader sexuelle Belästigung in ihrem Unternehmen beobachtet hatten, sie in einer anderen Befragung aber angaben, keinen Handlungsbedarf zu sehen, weil ihr Unternehmen weniger betroffen sei als andere Unternehmen.
Eine weitere Herausforderung ist, dass derzeit vorhandene Reglemente zum Umgang mit Fällen von sexueller Belästigung als Schutzfaktor eher keinen Einfluss ­haben. Sie scheinen, wenn überhaupt vorhanden, nicht effektiv implementiert. Der Mehrzahl der Befragten waren sie nicht bekannt. Betroffene wissen mehrheitlich nicht, an wen sie sich im Falle einer sexuellen Belästigung wenden können oder müssen.
Wichtige Präventionsmassnahme ist die klar geäus­serte Haltung des Topmanagements, dass sexuelle ­Belästigung und anderes diskriminierendes Verhalten unerwünscht ist. Falls Reglemente aufgestellt werden, sollten sie, um wirksam zu werden, praktikabel formuliert sein. Sie sollten für alle Mitarbeitenden deutlich erkennbar sein und immer wieder kommuniziert werden. Kader müssen verstärkt für ein aktives Vorgehen gegen ­sexuelle Belästigung und in Bezug auf die präventive Wirkung eines respektvollen Arbeitsklimas ­geschult werden.

Der Blick der Jurisprudenz

Prof. Dr. iur. Brigitte Tag, Dekanin der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich sowie Präsidentin und untersuchungsleitende Verantwortliche der Kommission «Reglement zum Schutz vor sexueller Belästigung» [3], stellte die Kommission und das von ihr mitkonzipierte Reglement der Universität Zürich vor.
Die Kommission legt auf Qualitätssicherung grossen Wert. Sie arbeitet multidisziplinär u.a. mit der Gruppe Sicherheit & Umwelt, dem Rechtsdienst, dem psychologischen Beratungsdienst und dem Gleichstellungsbüro zusammen. Sie bietet Weiterbildungen an und leistet breit gefächerte Öffentlichkeitsarbeit. Ihr Büro ist auch für die medizinische Fakultät zuständig. Das Reglement dient dem Schutz vor sexueller Belästigung und soll keinesfalls als Instrument zur Durchsetzung von Moralvorstellungen oder als Machtinstrument missverstanden werden.
Sanktionsmöglichkeiten basieren auf dem Strafgesetzbuch (StGB), dem Personalrecht und dem Gleichstellungsgesetz. Die Beratungsstelle sieht ihre aktive Rolle jedoch in Situationen, die nicht die Schwere eines ­Tatbestandes nach Strafrecht erreichen. Es besteht die Möglichkeit, die Betroffenen unter Einhaltung von Vertraulichkeit zu beraten.
Tag empfiehlt in der Regel, den Kontakt mit der Polizei erst nach einer Beratung zu suchen. Sie gibt zu bedenken, dass das Einschalten der Polizei nicht zwingend die Verurteilung der angezeigten Person nach sich zieht. Durch eine vorgängige Beratung können allenfalls aussichtslose Anzeigen, die immer auch für die Betroffenen eine ­grosse Belastung darstellen, vermieden werden. Hingegen sind Vorgesetzte in jedem Fall rechtlich verpflichtet, gemeldeten Fällen nachzugehen. Es ist ­daher oft zielführender, primär bestehende Meldestrukturen zu nutzen und Vorgesetzte einzubeziehen. Bei gravierenden, strafrechtlich zu verfolgenden Übergriffen übergibt die Kommission die Fälle direkt an die Staatsanwaltschaft.
Tag betont die juristische Fürsorgepflicht der Institu­tionen. Den Vorgesetzten und Unternehmen obliegt eine rechtlich verankerte Fürsorgepflicht, für ein diskriminierungsfreies und insbesondere ein von sexueller Belästigung freies Arbeitsklima zu sorgen. Die Umsetzung eines adäquat ausgearbeiteten Reglements kann vor Schadensersatzansprüchen schützen.
Ein gutes Arbeitsklima allein ist jedoch kein Schutz gegen das Aufkommen von sexueller Belästigung. Betroffenen empfiehlt Tag, offensiv zu reagieren (z.B. direkte Abwehr der sexuellen Belästigung oder Beschwerde bei der zuständigen Instanz). Allerdings beschreibt auch sie, dass die Mehrzahl der Betroffenen zunächst perplex und eher zurückhaltend reagiert. Das Hinnehmen von sexueller Belästigung führt jedoch selten dazu, dass sie «von alleine» verschwindet, die belästigende Person ihre Aktivitäten aufgibt.

Der Blick einer Fachstelle für Gleichstellung

Elijah Liv Strub, Projektleiterin der Fachstelle für Gleichstellung Stadt Zürich, informierte v.a. über das praktische Vorgehen für Betroffene.
Sie beginnt ihre Präsentation mit der Vorlage verschiedener «Sprüche», die das Auditorium bewerten sollte. Sie kann so auf einfachste Weise auf die Diversität der Wahrnehmungen hinweisen. Strub möchte damit bekräftigen, wie wichtig es ist, dass betroffene Frauen (und Männer) ihren subjektiven Wahrnehmungen trauen. Wie von Krings bereits betont, muss gelten, dass die Perspektive der Betroffenen und nicht die Absicht des Verursachenden ausschlaggebend ist. Jeder hat ein Recht auf ein aus seiner Sicht belästigungsfreies Arbeitsumfeld.
Angst vor Konsequenzen, Ohnmachtsgefühle und Zweifel über die Rechtmässigkeit ihrer Wahrnehmung hinderten viele Frauen daran, sich jemandem anzuvertrauen. Auch Strub erwähnt die Möglichkeit eines Gespräches, über das nach aussen geschwiegen wird, um die Hemmschwelle für eine erste Kontaktaufnahme zu senken. Schwierig wird die Einhaltung der Schweigepflicht nur, falls der starke Verdacht besteht, dass Straftaten weitere Personen gefährden könnten.
Anlaufstellen können z.B. Vertrauenspersonen in den Betrieben sein oder die spezifischen Fach- oder Opferhilfestellen der Gemeinden und Kantone. Niederschwellig ist auch das Onlineportal belästigt.ch zugänglich. Über diese Website werden derzeit ein bis zwei Anfragen pro Woche bearbeitet.
Von einer direkten polizeilichen Anzeige rät Strub ebenfalls eher ab. Auch sie betont die Pflicht des Arbeitgebers, Betroffenen zu helfen. Betroffene sollten versuchen, Beweise zu sammeln (z.B. Screenshots von SMS oder Dokumentation von Bemerkungen) und vor allem Rat und Solidarität bei Kolleginnen und Kollegen zu suchen, um sich schliesslich an ihren Arbeit­geber zu wenden.

Der Blick der Betroffenen

Die Podiumsdiskussion erbrachte zusammenfassend folgende Schlussfolgerungen:
• Das Thema der sexuellen Belästigung ist durch #MeToo in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt worden und bleibt präsent. Dies ist zu be­grüssen, denn erst wenn kritische Verhältnisse ­öffentlich werden, können sie als Problem wahrgenommen und eine Veränderung angestossen werden.
• Die früher als «Privatsache» tolerierte häusliche Gewalt ist ein gutes Beispiel dafür, dass und wie Veränderungen in der Gesellschaft möglich sind.
• Die deutliche Mehrheit der Tagungsteilnehmerinnen hatte bereits sexuelle Belästigung beobachtet oder erlebt.
• Eine Teilnehmerin, die bereits mehrere Jahre als Vertrauensperson eines Kantonsspitals tätig ist, konstatierte, dass ihr bisher kaum Fälle von sexueller Belästigung gemeldet wurden. Vielen war die Präsenz einer solchen Vertrauensperson in ihrem Spital nicht bekannt. Dies bestätigt, dass bestehende Beratungsstrukturen resp. Reglemente stärker in den Unternehmen kommuniziert werden müssen.
• Es ist zu akzeptieren, dass manche Frauen den Weg des Ignorierens wählen, Ereignisse ad acta legen wollen, um sich die sexuelle Belästigung «nicht zum Lebensinhalt zu machen».
• Frauen und gerade junge Assistentinnen, die in der «neuen Spitalwelt» eventuell noch verunsichert sind und eher Konsequenzen fürchten, müssen ermutigt werden, ihrer Wahrnehmung zu vertrauen und offensiv vorzugehen. Kolleginnen und Kollegen sollten solidarisch sein.

Fazit

Die mws plädiert auf dem Boden der aktuellen Erkenntnisse für eine statistische Erhebung zum Thema sexuelle Belästigung von Ärztinnen am Arbeitsplatz. Sie fordert die Unternehmen auf, ihren Handlungsbedarf objektiver zu analysieren sowie Schulungsangebote der Fachstellen für Gleichstellung für ihre Kader zu nutzen. Praktikable Reglemente sollten erlassen, neutrale Anlaufstellen geschaffen und die Mitarbeitenden sensibilisiert werden.

mws – medical women switzerland – ärztinnen schweiz

Die mws, gegründet 1922, zählt heute rund 1‘000 Kolleginnen und vertritt als einziger Verband der Schweiz die Interessen von Medizinstudentinnen, Ärztinnen in Weiterbildung und Ärztinnen aller Fachrichtungen und Positionen in Spitälern, Institutionen und Praxen aus jeder Region – mit oder ohne aktuelle Berufsausübung.
Dr. med. Maki Kashiwagi
mws medical women switzerland – ärztinnen schweiz
Stampfenbachstrasse 52
CH-8006 Zürich
Tel. 044 714 72 30
Fax 044 714 72 31
sekretariat[at]medicalwomen.ch
1 Befragung sexuelle Gewalt an Frauen im Auftrag von Amnesty International Schweiz: Sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt an Frauen sind in der Schweiz verbreitet. gfs.bern, Mai 2019.
2 Schär Moser M, Mouton A, Testa-Mader A, Krings F. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Die Perspektive der Betroffenen. Baustein 3 des Projekts «Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz – wer belästigt wen, wie und warum? Besseres Verständnis heisst wirksamere Prävention». Nationales Forschungsprogramm Gleichstellung der Geschlechter NFP 60. 2013.
3 Universität Zürich. Reglement zum Schutz vor sexueller Belästigung an der Universität Zürich (415.116) (vom 1. Mai 2007).