Arkadien

Horizonte
Ausgabe
2019/35
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17979
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(35):1177

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 27.08.2019

Daphnis und Chloe, Ostia-Rom
Seit es Städte gibt, entwirft der Mensch Gegenlandschaften, friedlich-bukolische Orte, fern von allen gesellschaftlichen Zwängen. Sehnsuchtsorte, die seine Modernisierungsschäden kompensieren sollen. Der römische Dichter Vergil erfand für seine Hirtengedichte die mythische Landschaft Arkadien. Er fand viele Nachahmer, so Longos, der mit seinem Hirtenroman Daphnis und Chloe einen spätantiken Bestseller schrieb. Die Idylle gehört durch alle Jahrhunderte zum literarischen Programm. Der Zürcher Salomon Gessner wurde mit seinen Idyllen europaweit bekannt. Die arkadische Schäferwelt bleibt ein Lieblingstopos italienisch-französischer Hofpoeten. Eine harmonische Natur kontrastiert das konfliktreiche Leben der Bürger und Adligen. Der Roman Walden des Amerikaners Henry David Thoreau von 1854 wurde zur Bibel für ­Zivilisationsmüde. Der Bericht über eine zweijährige materielle Askese eines unabhängigen Mannes, achtsam und meditativ in der Wildnis unterwegs, fasziniert die Leser bis heute. Seither gibt es im englisch-am­erikanischen Raum eine ungebrochene Tradition des Nature Writing, von Jack London bis zum Roman H für Habicht von Helen Macdonald. Eine Trauerarbeit, eine obsessive Beschreibung der Falknerei mit vielen Naturbeobachtungen, die der Autorin 2014 mehrere Preise eingebracht haben. Die Natur als Hauptakteur kennen auch deutsche Romantiker, Autoren wie Stifter, Mörike, Löns; aktuell Peter Wohlleben. Naturlyrik ist ein fester Bestandteil aller Gedicht­anthologien. Wenig bekannt ist Darwins berühmte Schlusspassage von On the Origin of Species: «[...] from sosimple a beginning endless forms most beautiful and most wonderful have been, and are being, evolved.» Eine andere Natur­konzeption als die funktionalistische, neodarwinistische Betrachtung. Darwins grandeur in this view of life beruht auf der konkreten, sinnlichen Naturerfahrung eines genialen Beobachters.
Am Landleben soll der Städter genesen und beim Wandern in der freien Natur. Frei ist sie dort, wo mensch­liche Eingriffe nicht sichtbar sind. Die Konsumgesellschaft liebt sie im Doppelpack, mit dem Allrad durch die Wildnis, auf Safari, mit dem Kreuzfahrtschiff bei den Eisbären. Erfolgreiche Magazine wie Landliebe oder Landlust bedienen die Sehnsucht nach einem heilen Leben, mit leckeren Biorezepten, Garten, Balkon und allem Komfort. Arkadien als Konsumerlebnis ist die eine Seite. Wo aber der Mensch sein zerstörerisches Potenzial erkennt, sucht er nach neuen Strategien, den schädlichen Einfluss einer technischen Zivilisation zu verringern. Extreme grüne Bewegungen und rechts­national orientierte Gruppen vertreten eine ähnliche Ideologie radikaler Lösungen, wonach nur eine autoritäre Führung in einer homogenen Gesellschaft Nachhaltigkeit durchsetzen kann. Die Naziideologie lehrte die Blut-und-Boden-Mythologie einer mörderischen Gärtner- und Züchtermentalität. Unterschiedliche Menschengewächse wurden in Nützlinge und Schädlinge unterteilt, gedüngt oder ausgejätet. In abgeschwächter Form hat diese Ideologie wieder Zulauf. Arkadien ist dort, wo wir die Regeln des Zusammenlebens vermeintlich autonom bestimmen, abgeschottet gegen unerwünschte Fremde und Zuwanderer. Aus der Rückschau ist die Ecopop-Initiative 2014 daran gescheitert, dass sie Umweltschutz mit einer Regulierung der Bevölkerungszunahme verband. 0,2% Nettozuwanderung jährlich, gemessen an der ständigen Wohnbevölkerung, verbunden mit einer Familienplanung für die Dritte Welt. Nichtweisse unerwünscht? Das weckte Zweifel an den Motiven einer elitären Schicht, die vielleicht nur ihre Privilegien zu verteidigen suchte. Geblieben sind die Probleme. Gegen Artenschwund und drohende Klimakatastrophen demonstriert die junge Generation. Überzeugungsarbeit und sehr viel Druck können vielleicht ein Umdenken bewirken. Eine Natur mit Daphnis und Chloe wird es nie mehr geben. Doch der Mensch ist erfinderisch, vor allem dann, wenn es ihm an den Kragen geht.
erhard.taverna[at]saez.ch