In Zeiten des Klimatismus

Horizonte
Ausgabe
2019/33
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.17982
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(33):1095

Affiliations
Dr. med., Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, Mitglied FMH

Publiziert am 13.08.2019

Dass dem Klima (letztlich eine komplexe, schwierig zu definierende Materie) eine grosse Bedeutung zukommt, erfahren wir jeden Tag aufs Neue. Nicht nur bio, regional und naturnah, auch transparent tiergerecht artschützend biodivers muss sein, was des Konsums ist; und mit stets wachsender Bedeutung klimaneutral als rôle signature. Doch Hand aufs Herz: Klimaneutral wäre wohl nur die Nichtexistenz. Wesen, die das Glück (nur aus klimaneutraler Sicht?) in sich tragen, nicht geboren zu werden! Mit dem ersten Atemzug verliert sich unsere klimatische Unschuld.
An der Tramhaltestelle zwei Jugendliche, bewaffnet mit iPads. Eine Umfrage, nur eine Sekunde. Nein, ich will nicht, suche zu entkommen. Nur eine einzige Frage. Ob ich denn gegen oder für das Klima sei. Ich bin verwirrt, verstehe die Fragestellung nicht. Und sie verstehen mich nicht. Ein ungünstiges Diskussionsklima, sage ich, doch dieses Klima scheint ihnen fremd, sie ziehen weiter.
Klimatische Kuren, auch Luftkuren, erfreuten sich einst grosser Beliebtheit. Indiziert bei Erschöpfung geistiger oder körperlicher Kräfte. Dem Klima am See, in den Bergen, am Meer (vorwiegend am Toten) wird jahrzehntelang therapeutische Wirkung zugeschrieben. Das Alpenklima scheint günstig, es wird durch spezifische Luftverhältnisse definiert. Luftdruck und Sauerstoff nehmen ab, die Luft wird entfeuchtet, die Sonneneinstrahlung intensiviert. Im 19. Jahrhundert blühen Luft-, Höhen- und Klimakurorte oder Klima­stationen. Hippokrates riet bei gewissen Krankheiten zu einem Klimawechsel (nicht -wandel). Und ozonreiche Luft galt lange Zeit als Vorteil für Seele und Körper. Luftbäder, Luftkuren und Klimatotherapien schienen anderen Behandlungsformen bei chronischen Erkrankungen überlegen. Seltsam, dass zu Beginn der Klima­­­therapien vor allem sogenannte Modekrankheiten wie der unvernünftige Kräfteverbrauch und dessen psychophysisches Abbild, die Neurasthenie, die Hauptindika­tionsbereiche für die Klimatherapie bildeten. Und noch heute geistern Ratschläge zu Luftveränderungen, Sonnenbädern oder einem Klimawechsel als Reminiszenz an andere Zeiten durch unsere Sprache.
In Umkehrung früherer Naturgläubigkeit in Bezug auf medizinische Behandlungen wird es nun so, dass dem guten alten Klima ein schlechtes neues entgegensteht. Die Wandel im Klimatischen führen zu Hitzewellen, denen unser Herz nicht gewachsen ist, zu Infektionen, von denen unsere Abwehr überrumpelt wird, zu Atempro­blemen im Zusammenhang mit Schadstoffbelastungen, zu verfrühten Toden. Und auch, nur am Rande erwähnt, zu Posttraumatischen Belastungsstörungen als Folge der Konfrontation mit Apokalypsen. Und Ozon? Einst Wundergas – heute Hautkrebs.
Die Natur des Klimas ist nicht mehr das Klima der Natur. Es scheint, als ob der anthropogene Klimawandel einen Endpunkt markieren könnte in der Geschichte unserer Naturmissachtung. Waren damals Klimakuren mehr denn je atmosphärische Kuren, ist nun von dieser Atmosphäre nichts zurückgeblieben ausser Schaden. So ist geworden, was schon lange befürchtet: Der Klimawandel versinnbildlicht unseren no return. Mit der Veränderung des Klimas als Summe aller Veränderungen der Atmosphäre wird sich unser Verhältnis zur Erde notgedrungen ändern. Dem früher sinn- und kulturstiftenden Klimabegriff haben wir allerdings nichts mehr entgegenzusetzen.
Dass das Klima als Ausdruck einer gegebenen Naturkonstanten ihre Unschuld verliert, verheisst Ungutes, dass die Natur mit Moral beladen wird, widerspiegelt unsere Ratlosigkeit. Und wieder wird gewertet wie stets in hoffnungslosen Zeiten. Die Guten seien geheiligt, die Bösen verdammt. Klimaretter, -aktivist und Klimagott kontra -leugner, -sünder, -tod.
Zukunftsdenkfabriken allerdings errechnen Äquivalenzen zwischen weltweit überzähligen Geburtenfällen und weltweit (aus Klimagründen) überzähligen Sterbefällen, so sorge, heisst es, naturgemäss die Natur für eine natürliche Auslese ... Sind täglich erlebte Klimazuckungen Angsttriebe des Klimasterbens, der Klimanot, Vorboten eines kommenden Bebens, eruptiver Verdüsterungen? Die Anrufung von Endzeit-Zeiten fördert die Klimaangst, doch ein Klima der Angst ist, wie bekannt, dem Verstand nicht förderlich. Fallen wir anheim der Klimaschwarz­seherei? Möge aus unserem einstigen wertfreien Heilklima kein (dem Moralgott huldigendes) «Heil Klima!» werden, möge die einst heilende Natur nicht zum Unheil der Natur werden.
Dr. med. Enrico Danieli
Via ai Colli 22
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