OpenNotes, eine zeitgemässe Kommunikationsform

Zu guter Letzt
Ausgabe
2019/3132
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.18020
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(3132):1050

Affiliations
Dr. med., Mitglied des Zentralvorstands der FMH und Departementsverantwortliche Digitalisierung und eHealth

Publiziert am 31.07.2019

Die Bewegung hin zu OpenNotes spiegelt beispielhaft, wie sich mit der Digitalisierung auch die Kommunikationskultur wandelt. Während bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts Patientinnen und Angehörigen belastende Diagnosen verschwiegen wurden, ist es heute akzeptiert, dass mit Hilfe moderner Technologien Ärztin und Patient zeitnah zu den gleichen Fachinformationen Zugang haben. Das direkte Gespräch im Rahmen einer Konsultation wird digital ergänzt, vielleicht teilweise ersetzt.
Dieser Kulturwandel ist nicht spezifisch für den ärztlichen Beruf. Spezifisch ist, dass das Gespräch einen wesentlichen Teil der ärztlichen Kunst darstellt. Spezifisch ist auch, dass die Kommunikation im Rahmen der therapeutischen Beziehung zwischen Arzt und Patientin essentiell ist für eine wirksame Behandlung. «Zuerst das Wort, dann die Pflanze, zuletzt das Messer»: Dieses Zitat wird sinngemäss bereits Asklepios in der griechischen Mythologie zugeschrieben und hält sich in seiner Kernaussage bis heute. Wie verändert sich die ärztliche Beziehungsdienstleistung in ihrer Schriftlichkeit mit OpenNotes?
Die Autorinnen des in dieser Ausgabe der SÄZ publizierten Beitrags «OpenNotes: Transparenz steigert Vertrauen und Patientensicherheit» [1] geben einen ­guten Überblick über die heutige Studienlage und ­nennen bereits im Titel drei Kernthemen, welche in verschiedenen Studien positiv beleuchtet werden: Transparenz, Vertrauen und Patientensicherheit. Nachdem über Jahrhunderte die Informationshoheit einseitig beim Arzt war und sich die Patientin fast ausschliesslich auf ihr Vertrauen in die Behandlung stützen konnte, ist es verständlich, dass das Pendel jetzt Richtung mehr Transparenz ausschlägt.
Noch gibt es wenig Literatur, welche negative Aspekte digitaler Transparenz beleuchtet. Für eine ausgewogene Betrachtung könnten sie aber insbesondere für die Medizin von Bedeutung sein. Byung-Chul Han [2] schreibt in seinem Buch Transparenzgesellschaft: «Di­stanz und Scham lassen sich nicht in die beschleunigten Kreisläufe des Kapitals, der Information und der Kommunikation integrieren.» Der Schriftsteller Peter Handke [3] formuliert es persönlicher: «Von dem, was die anderen nicht von mir wissen, lebe ich.» Wir wissen heute erst, dass für eine Minderheit von Patienten das Lesen ihrer Krankengeschichte belastend ist. Wir wissen noch nicht, welche Informationen die Ärztin in der Kultur von OpenNotes nicht mehr verschriftlicht und wie dieses neue Geheimnis sich auf die Qualität der Behandlung auswirken wird.
Die Komplexität des Wandels der ärztlichen Kommunikationskultur mit der digitalen Transformation ist gross. Nicht nur unterscheiden sich die mündliche und schriftliche Kommunikation vielschichtig, auch die Schriftlichkeit selbst wandelt sich mit der täglichen Nutzung digitaler Medien. Wenn wir von Transparenz, Vertrauen und Patientensicherheit sprechen, müssen wir eingestehen, dass diese Begriffe begleitet sind von einer gewissen Unschärfe, welche sich am besten in der Beobachtung der ärztlichen Konsultation beschreiben lässt [4]: «Es begegnen sich zwei Personen, deren Einstellungen und Erwartungen zu intuitiven Wahrnehmungs- und Spiegelungsabläufen führen, die den Behandlungserfolg stärker beeinflussen als manche therapeutische Massnahme.»
Im Gebrauch von OpenNotes wird es spannend sein zu untersuchen, welche Patientinnen diese neue Kommunikationsform wie anwenden und ob sich hier Parallelen zeigen zu Studien im sozialwissenschaftlichen ­Bereich. Shanhong Luo [5] untersuchte in den USA den Zusammenhang zwischen Zufriedenheit und Häufigkeit der SMS-Kommunikation in Liebesbeziehungen. Die Resultate zeigten, dass das Bindungsverhalten die Nutzung von text messages bestimmte. Nun sind Liebes­beziehungen explizit nicht gleichzusetzen mit therapeutischen Beziehungen. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass bei beiden existenzielle Themen im Zen­trum stehen.
Mit ihrem Artikel zu OpenNotes eröffnen die Autorinnen [1] ein interessantes neues Kapitel in der ärztlichen Kommunikation, die in Zukunft wesentlich mitgestaltet wird durch digitale Technologien. Viele Bedenken, welche Ärztinnen und Ärzte gegenüber OpenNotes vor deren Einführung ins Feld führten, legten sich mit der Nutzung und führen zu einer breiten Akzeptanz, welche es in ihrer Tiefe noch zu erforschen gilt.
yvonne.gilli[at]fmh.ch
1 Ziltener E, Bellinger A, Fattinger K. Open­Notes: Transparenz steigert Vertrauen und Patientensicherheit. Schweiz Ärzteztg. 2019;100(31–32):1033–36.
2 Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft, Matthes & Seitz 2015.
3 zitiert aus Peter Handke, Am Felsfenster morgens, Salzburg 1998, S. 336.
4 Joachim Bauer, Warum ich fühle, was du fühlst, Wilhelm Heyne 2016, S. 133.
5 Shanhong Luo, Effects of texting on satisfaction in romantic rela­tionships: The role of attachment, April 2014, Computers in Human Behavior. 33:145–152.