Staat und Industrie drehen sich bei ihren Medikamentenpreisverhandlungen immer öfter und länger im Kreis

Arzneimittel-Regulierung: Patienten und Ärzte einbeziehen

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2019/41
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.18032
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(41):1354-1356

Affiliations
a Dr. med., Oberarzt Pneumologie am Kinderspital Zürich und Mitglied des CFCH-Vorstands; b Co-Präsidenten der CFCH

Publiziert am 09.10.2019

Im Unterschied zu anderen Bereichen der medizinischen Versorgung sind Patienten und Ärzte bei der Beurteilung von innovativen medikamentösen Therapien nicht involviert. Das ist kein Problem, wenn klare und nachvollziehbare Entscheidungen und diese einen fairen und gleichberechtigten Zugang für alle Patienten sicherstellen, die für ein bestimmtes Arzneimittel in Frage kommen. Doch wo Linderung oder Heilung vom Vesicherungsträger abhängig ist, bleibt im solidarischen Gesundheitswesen ein ungutes Gefühl. Diese Ohnmacht trifft besonders oft bei seltenen Krankheiten zu, wo es in der Regel um wenig Fälle, aber teure Medikamente geht. Anne-Sylvie Dupont, Professorin für Soziale Sicherheit an den Rechtsfakultäten der Universitäten Genf und Neuenburg, äusserte unlängst auf einem Podium von ProRaris (Dachverband für Seltene Krankheiten) die Befürchtung, «dass seltene Krankheiten uns immer mehr die Grenzen unseres Sozialver­sicherungssystems aufzeigen».

Aus Uneinigkeit über den Zusatznutzen bleibt nur das Prinzip Hoffnung

Das Dilemma ist der Fachwelt bekannt und im BAG-Handbuch betreffend die Spezialitätenliste (SL) zur Beur­teilung von Wirtschaftlichkeit, Zweckmässigkeit und Wirksamkeit (WZW) von medizinischen Leistungen beschrieben [1]. Das Handbuch legt fest, welche Leistungen die obligatorische Grundversicherung zu übernehmen hat. Auf einem BAG-internen Arbeits­papier zu Operationalisierung der WZW aus dem Jahr 2011, welches den Autoren vorliegt, ist jedoch auch aufgeführt: «Für Leistungen, die im Vergleich zur Komparatorleistung sowohl einen höheren Nutzen als auch höhere Kosten aufweisen, erlaubt die Angabe der zusätzlichen Kosten für den zusätzlichen Nutzen (incremental cost–effectiveness ratio, ICER) theoretisch eine Ausscheidung von Leistungen mit einem unverhältnismässig schlechten Kosten-Nutzen-Profil. Bisher liegt allerdings kein Konsens über eine Handhabung von konkreten ICER-Werten in der Schweiz vor.» Im Klartext: Theoretisch wüssten wir zwar schon, was zu tun wäre. Aber in der Praxis sind wir uns einfach nicht einig. Und so lange es keine ICER-Einigkeit gibt, bleibt den Patienten nur das Prinzip Hoffnung.
Hier kommt die KVV Art. 71 zum Tragen [2]. Die Verordnung unterscheidet im Wesentlichen zwei Fälle: Die Kostenübernahme eines SL-Arzneimittels ausserhalb der genehmigten Indikation und die Kostenübernahme eines zugelassenen Arzneimittels, das aber nicht in der SL enthalten ist, weil zum Beispiel Preisverhandlungen die Aufnahme in die SL verzögern oder ein Unternehmen keine SL-Listung beantragt . Seit 2011 erlaubt KVV 71 die Kostenübernahme in Ausnahmen, u.a. wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
1. Vom Einsatz des Arzneimittels wird ein grosser therapeutischer Nutzen erwartet.
2. Die Krankheit zieht eine schwere chronische gesundheitliche Beeinträchtigung nach sich oder verläuft tödlich.
3. Es gibt keine therapeutische Alternative.

Weil Staat und Industrie sich nicht ­finden, entscheiden die Versicherer

Gemäss der Verordnung bestimmt der Versicherer nach Absprache mit dem Hersteller die Höhe der Vergütung aller zugelassenen Medikamente. Dies ist kritisch, da der Versicherer nur dann involviert wird, wenn sich BAG und Pharmaunternehmen entweder im Preis (noch) nicht einig wurden und das Medikament deshalb nicht auf der SL steht, oder weil das Arzneimittel nicht zugelassen ist, aber trotzdem nützlich sein könnte. Mit anderen Worten: Der Bundesrat delegiert die Zulassung und die Preisfestsetzung eines Medikamentes in diesem Fall «eine Ebene nach unten».
Damit der Versicherer seine Aufgabe erfüllen und die Vergütung bestimmen kann, muss er überprüfen, ob die Kosten der Therapie in einem angemessenen Verhältnis zum therapeutischen Nutzen stehen. Dazu konsultiert er seinen Vertrauensarzt. Im Zuge der Einführung dieses Regelprozesses haben die Versicherer zusammen mit den Vertrauensärzten die Einzelfall-Entscheidungen schematisiert. Das BAG spielte dabei keine Rolle. Je nach Versicherungsverband unterscheiden sich die Schemata leicht. Grundsätzlich berücksichtigen aber alle Checklisten für die Preisfestsetzung dieselben Parameter, nämlich Studienqualität, Überlebensrate sowie Einfluss auf Krankheitssymptome und Lebensqualität [3]:
Die Kategorien werden gewichtet und in eine Punktzahl umgerechnet. Daraus leiten sich in der Praxis drei hauptsächliche Szenarien für die Vergütung ab:
1. Die Therapie wird nach Vereinbarung mit dem Medikamenten­hersteller bezahlt.
2. Das Medikament wird in einer Versuchsphase vom Hersteller zuerst kostenlos abgegeben, danach richtet sich die Vergütung nach dem individuellen Erfolg der Therapie.
3. Die Therapie wird nicht vergütet.

Über CFCH

Die Schweizerische Gesellschaft für Cystische Fibrose (CFCH, www.cfch.ch) ist eine politisch und finanziell unabhängige Pa­tientenorganisation. Sie unterstützt ihre 1500 Mitglieder und deren Angehörige seit 1966 mit Rat und Tat. Im Zentrum steht die Hilfe zur Selbsthilfe der 1000 in der Schweiz direkt von der Erbkrankheit betroffenen Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen und Lebenslagen.

KVV 71 vermag das Kosten-Nutzen-Dilemma nicht zu lösen

Weil in der Schweiz nicht festgelegt ist, wann ein Medikament als zu teuer zu gelten hat, drehen sich die Verhandlungen immer öfter und länger im Kreis. Der Entscheid über die Vergütung von Arzneimitteln im Einzelfall obliegt den Versicherern. Der Schluss liegt nahe, dass mit KVV 71 versucht wird, eine unklare Regulierung mit unklaren Ausnahmeregeln zu überwinden. Der Bund hat mit der Sache nichts mehr zu tun. In die Pflicht genommen werden allen voran die Versicherer und Vertrauensärzte, über die sich regelmässig der kollektive Zorn vieler Gesundheitsakteure entlädt, wenngleich sie sich redlich bemühen, ihre Verantwortung wahrzunehmen. Ihre Schemata ebnen den Weg für eine strukturierte Entscheidungsfindung. Nur lässt sich damit die Preisfrage nicht regelbasiert und einheitlich klären, weil in der Schweiz eben kein Konsens herrscht, was bezüglich Kosten-Nutzen-Einschätzung verhältnismässig und unverhältnismässig ist.
Stossend ist zudem, dass sich die Kriterien für die WZW-Bewertung einer allgemeinen Pflichtleistung gemäss BAG-Handbuch nur zum Teil mit den Kriterien der Versicherer und Vertrauensärzte decken. Es ist nicht nachvollziehbar, warum hier unterschiedliche Kriterien gelten. Besonders zu erwähnen ist aus Sicht der Versorgung, dass das im Krankenversicherungs­gesetz (KVG) verankerte Vertrauensprinzip bei der Kassenpflicht von Medikamenten in Einzelfällen keine Rolle spielen soll. Während die Behörden im Grundsatz darauf vertrauen, dass Ärzte und Patienten gemeinsam das Richtige tun und dies über die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) zu vergüten ist, ­sollen Einschätzungen von Arzt und Patient bei der ­Bewertung einer Einzelfall-Ausnahmeregelung nach KVV 71 keinerlei Bedeutung und Gewicht haben? Aufgrund der verbreiteten Unzufriedenheit mit dem aktuellen Zustand plädieren deshalb wir für eine Revision von KVV 71.

Skizze eines Lösungsansatzes zur Diskussion

Unser Lösungsansatz basiert auf folgenden Grundsätzen:
• Beteiligung der betroffenen Patienten und Fachärzte
• Einheitliches Beurteilungsschema unabhängig von Versicherer und Hersteller
• Rascher Zugang der Patienten zu wirksamen Therapien
• Schlankes und transparentes Verfahren
Fall 1 («off label»): Kostenübernahme eines Arzneimittels der Spezialitätenliste (SL) ausserhalb der genehmigten Indikation oder Limitierung
Bei stockenden Preisverhandlungen zwischen BAG und Industrie soll die Verzögerung des Zugangs zu einem Medikament durch einen allgemein gültigen Sonderprozess minimiert werden. Die EAK entscheidet auf Antrag des Pharmaunternehmens über dessen Durchführung. Die Kriterien für den Sonderprozess könnten wie folgt lauten:
• Der antizipierte Preis für das Medikament liegt über einem zu definierenden Betrag
• Es liegt eine schwere der Krankheit gemäss aktueller KVV-Regelung vor
• Das Medikament verspricht einen Mehrnutzen gegenüber etablierten Therapien
• BAG und Hersteller schliessen nach dem Entscheid zum Sonderprozess einen Vergütungsvertrag
• Wird das Medikament in die SL aufgenommen, gilt der vom Hersteller verlangte Preis
• Die Vergütung erfolgt erst, nachdem Arzt und Patient die Wirksamkeit im individuellen Fall schriftlich bestätigen (risk sharing / pay for performance).
Mit diesem Prozess fasst das KVG-Vertrauensprinzip auch in der Medikamentenregulierung Fuss.
Fall 2 («in label»): Kostenübernahme eines zugelassenen Arzneimittels ausserhalb der SL
Ist ein Arzneimittel zugelassen, aber noch nicht in die SL aufgenommen, soll aber trotzdem angewendet werden, wird der Fall von einer neu zu etablierenden Institution beurteilt. Der Antrag auf Kostenübernahme erfolgt durch den Patienten und den behandelnden Arzt. Sie sind somit im Verfahren involviert, ebenso wie der Krankenversicherer, der Hersteller und das BAG. Die Entscheidungskriterien werden vom BAG genehmigt und gelten unabhängig vom jeweiligen Versicherer.
Neu an diesem Prozess ist der Einbezug der Patienten und ihrer Ärzte. Um das Verfahren zu vereinfachen, sollen der behandelnde Arzt und sein Patient bis zu einer bestimmten Kostengrenze pro Jahr selbständig über die Anwendung entscheiden. Darüber hinaus entscheidet ein übergreifend zusammengesetztes Gremium innerhalb einer bestimmten Frist. Die Therapien sind zu melden und ihre Wirksamkeit zu beobachten, z.B. in einem Patientenregister. Arzt und Patient müssen gemeinsam angeben, wie sie die Wirksamkeit beurteilen. Die Entscheide und die Vergütung werden transparent gemacht. Damit stärkt unser Ansatz die Stellung der Betroffenen, vereinheitlicht die Entscheidungswege und entlastet die Krankenversicherer sowie die Arzneimittelhersteller administrativ. Die transparente Information über die Entscheide wirkt präventiv gegen jegliches missbräuchliche Verhalten. Und die Patienten fühlen sich weniger zwischen Hammer und Amboss.

Im Zuge einer Überprüfung von KVV 71 sind vier Punkte zu klären

1. Ist es zielführend, dass die Anliegen und Betei­ligung von Patienten und Ärzten einzig via die Eidgenössische Arzneimittelkommission (EAK) erfolgen?
2. Stellen die aktuellen Prozesse sicher, dass Interessen und Schutz der Patienten genügend gewährleistet sind? Und ist es richtig, dass deren individuelle Situation nicht in die Beurteilungskriterien mit einfliessen?
3. Sollten sich die Kriterien für eine individuelle Medikation nicht mit den Kriterien decken, die das BAG der Bewertung anderer Versorgungsleistungen zu Lasten der Grundversicherung zu Grunde legt?
4. Und mit Blick auf Situationen der fehlenden Therapiealternativen, in denen der Hersteller Monopolist ist und dem Bund bzw. dem Kostenträger als Druckmittel nur Zeitverzögerung bleibt: Wäre es sinnvoll, Patienten und Ärzten früher Zugang zu nützlichen Therapien zu verschaffen? Falls ja: Wären Prozesse denkbar, die nicht kostentreibend sind?
Die Schweiz ist mit der hier vorliegenden Zugangsproblematik nicht allein. Im Unterschied zu anderen Gesundheitsthemen erweist sie sich aber auch nicht als führend. In einem Vergleich unter 22 europäischen Ländern belegt sie bzgl. der Verfügbarkeit von Medikamenten Rang 14 [4]. Letztlich dreht sich häufig vieles darum: Patienten wollen Zugang zu Therapien. Hersteller wollen Zugang gewährleisten – sind dazu aber nicht verpflichtet – und verlangen dafür einen hohen Preis. Staat und Sozialversicherungen wollen eine gute Gesundheitsversorgung zu tragbaren Kosten. In den letzten Jahren häuften sich die Zielkonflikte in diesem von unterschiedlichen Interessen geprägten Gefüge. Die pharmazeutische Industrie bringt zunehmend sehr teure Therapien für spezifische Krankheitsbilder auf den Markt. Patienten müssen aufgrund fehlender Einigkeit lange auf den Zugang zu Innovationen warten und riskieren erhebliche Folgeschäden. In der Zwischenzeit wird den Versicherern und dem Staat vermehrt die Schuld dafür in die Schuhe geschoben. Und die Hersteller sehen sich ständig mit Vorwürfen von Erpressung und Renditemaximierung konfrontiert.

Aus dem Teufelskreis auszubrechen ist im Interesse von allen

Mit anderen Worten: Alle Beteiligten hätten ein Interesse daran, aus diesem regulatorischen Teufelskreis herauszukommen. Um öffentliche Eskalationen und Machtspiele zu vermeiden, sind die Akteure aufgerufen, gemeinsam Wege aus der enger werdenden Sackgasse zu suchen. Aus diesem Grund sind Anpassungen an den bestehenden Regulierungsprozessen zu prüfen. Mit dem nachfolgenden Denkanstoss will die Schweizerische Gesellschaft für Cystische Fibrose zusammen mit ProRaris im Interesse aller einen konstruktiven Diskussionsbeitrag einbringen, der aus der gegenwärtigen Sackgasse herausführt.

Das Wichtigste in Kürze

• Für die Zulassung und Preisfindung bei Medikamenten gibt es zahlreiche Regeln, doch für seltene Erkrankungen fehlt es z.T. an klaren Vorgaben.
• Ohne klare Regeln besteht das Risiko, dass sich Staat und Indu­strie bei Preisverhandlungen immer öfter im Kreis drehen.
• Es ist an der Zeit, jene gezielt einzubinden, die besonders nahe am Geschehen sind – die Patienten und ihre behandelnden Ärzte.
• Aufgrund der verbreiteten Unzufriedenheit mit dem aktuellen Zustand plädiert die Schweizerische Gesellschaft für Cystische Fibrose (CFCH) für eine Revision des KVV 71.
Die Autoren erklären keine Interessenverbindungen in Zusammenhang mit dem vorliegenden Manuskript.
Dr. med. Andreas Jung
Oberarzt Pneumologie
Kinderspital der Universität Zürich
Steinwiesstrasse 75
CH-8032 Zürich
Tel. 044 266 81 77
andreas.jung[at]kispi.uzh.ch
2 Verordnung über die Krankenversicherung (KVV). https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19950219/index.html, heruntergeladen am 3.6.2019.
3 Nutzenbewertung zur Vergütung von Arzneimitteln im Einzelfall.http://www.vertrauensaerzte.ch/expertcom/71kvv/updmay18/, heruntergeladen am 3.6.2019.
4 Detiček A, Locatelli I, Kos M. Patient Access to Medicines for Rare Diseases in European Countries. Value in Health. 2018;21:553–60.