Ist mein Patient urteilsfähig?

FMH
Ausgabe
2019/34
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.18049
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(34):1102-1103

Affiliations
Dr. iur., Rechtsanwältin, Generalsekretärin und Leiterin Rechtsdienst

Publiziert am 20.08.2019

Urteilsfähigkeit – Urteilsunfähigkeit

Ein Mensch ist urteilsfähig, wenn er in der Lage ist, vernunftgemäss zu handeln. Das bedeutet einerseits, dass er fähig ist, sich einen eigenen Willen zu bilden, also über die Fähigkeit verfügt, den Sinn und Nutzen sowie die Wirkung eines bestimmten Verhaltens einsehen und abwägen zu können. Andererseits muss er in der Lage sein, nach diesem Willen zu handeln [1]. Ist dies der Fall, darf der Patient auch eine aus medizinischer Sicht unvernünftige Entscheidung treffen. Ein urteilsfähiger Patient muss also aus objektiver medizinischer Sicht nicht vernünftig handeln, aber dazu in der Lage sein [2].
Urteilsfähigkeit ist zeitlich und sachlich relativ, eine Person ist daher zu einem bestimmten Zeitpunkt in Bezug auf eine bestimmte Entscheidung urteilsfähig. Je komplexer der betreffende Sachverhalt, desto höhere Anforderungen werden an die Urteilsfähigkeit gestellt.
Urteilsunfähigkeit hingegen liegt erst dann vor, wenn die mentalen Fähigkeiten der Patientin signifikant eingeschränkt sind. Der schweizerische Gesetzgeber geht deshalb von der grundsätzlichen Urteilsfähigkeit der Menschen aus [3]. Diese gesetzliche Vermutung bedeutet, dass auch die Ärztin grundsätzlich davon ausgehen kann, ihr Patient sei urteilsfähig. Diesbezüglich sind deshalb weder besondere Abklärungen noch eine Doku­mentation dieses Sachverhalts notwendig. Der Arzt trägt aufgrund dieser Vermutung keine Beweislast im Sinne, dass er das Vorliegen der Urteilsfähigkeit bestätigen oder nachweisen muss.

Notwendigkeit der Evaluation

Das Gesetz nennt aber auch Schwächezustände, bei ­deren Vorliegen die Vermutung der Urteilsfähigkeit nicht mehr gilt. Neben Kindesalter, psychischen Erkrankungen oder geistiger Behinderung können Rausch- und ähnliche Zustände dazu führen, dass eine Person urteilsunfähig ist. Liegt beim Patienten einer dieser Zustände vor, muss sich der Arzt mit der Frage beschäftigen, ob dieser Zustand einen Einfluss auf die Urteilsfähigkeit seines Patienten hat. Der Arzt darf sich in diesen Fällen also nicht mehr auf die gesetzliche Vermutung verlassen [4].
Nicht jeder dieser Schwächezustände führt allerdings zum Wegfallen der Urteilsfähigkeit [5], weshalb eine diesbezügliche Abklärung durchgeführt werden muss. Das Gesetz lässt offen, wie diese zu geschehen hat. In ­einem ersten Schritt ist eine formlos durchgeführte Abklärung ausreichend. Eine kurze Dokumentation ­genügt, sofern eine vertiefte Abklärung der Urteils­fähigkeit als nicht notwendig erscheint, weil sie von der Ärztin als gegeben erachtet wird. Um der Ärztin eine Hilfestellung bei der vertieften Evaluation zu geben, wurde die SAMW-Richtlinie «Urteilsfähigkeit in der medizinischen Praxis» verfasst [6]. Neben dem Hinweis auf die gesetzliche Regelung werden mit dieser Publikation Hilfestellungen für unterschiedliche Situationen des ärztlichen Alltags zur Verfügung gestellt, unter ­anderem bei der Behandlung von Kindern und Jugend­lichen, Patienten mit psychischen Störungen oder bei Behandlungen in der Notfall- und Intensivmedizin.
Am Beispiel von minderjährigen Patientinnen kann gut aufgezeigt werden, dass es innerhalb der im Gesetz erwähnten Schwächezustände und den in der Richt­linie genannten Patientengruppen keine allgemeingültige Regel für das Vorliegen der Urteilsfähigkeit gibt. Einleuchtend ist wohl, dass eine 17-jährige Patientin im selben Masse in der Lage sein dürfte, über anstehende Eingriffe zu entscheiden, wie sie das nach ihrer Volljährigkeit als 18-Jährige wäre. Ebenso klar ist, dass ein Säugling nie urteilsfähig ist. Altersgrenzen, ab welchen der Minderjährige für bestimmte Eingriffe als urteilsfähig zu gelten hat, existieren nicht. Der Ärztin obliegt es folglich, dies abzuklären und ihre Erkenntnisse zu dokumentieren. Gemäss ihrem Entscheid hat sie dann die Eltern als Vertreter allenfalls auf die eine oder andere Weise in die anstehende Behandlung einzubeziehen, vgl. dazu nachfolgend mehr [7].
Unterschiede bestehen nicht nur bei Minderjährigen, sondern bei allen genannten Schwächezuständen, einmal weil diese in unterschiedlicher Ausprägung vorliegen können, aber auch, weil je nach Situation unterschiedliche Anforderungen an die Urteilsfähigkeit gestellt werden.
Unabhängig vom Vorliegen gewisser Anhaltspunkte für eine allfällige Urteilsunfähigkeit bei der Patientin selbst besteht in gewissen medizinischen Situationen eine diesbezügliche Abklärungs- und Dokumentationspflicht. Diese gilt für die Sterilisation, wo die Urteils­fähigkeit festgestellt werden muss, oder für die Lebendspende von Organen, vor welcher eine Abklärung verlangt wird [8]. Die Rechtsprechung verlangt beispielsweise zudem eine besonders sorgfältige Dokumentation im Rahmen der Suizidhilfe [9].
Sobald die Ärztin nicht von der Urteilsfähigkeit ihres Patien­ten ausgehen kann, weil einer dieser Schwäche­zustände vorliegt, ändert sich auch ihre Beweislast. Im Streitfall hat sie nachzuweisen, dass sie die besondere mentale Situation erkannt, sich die notwendigen Überlegungen gemacht und die allenfalls indizierte Evaluation durchgeführt hat. Ebenso hat sie ihre Schlussfolgerungen festzuhalten und muss begründen, weshalb sie zu ihre­r Einschätzung – entweder des Vorliegens der Urteilsfähigkeit oder deren Fehlen – kommt. Eine Dokumenta­tionspflicht betreffend die Urteilsfähigkeit ist gesetzlich meist nicht explizit vorgesehen, es ist aber evident, dass der Arzt ohne diese nur in Ausnahmefällen in der Lage sein wird zu beweisen, dass er richtig gehandelt hat.

Aufklärung – Urteilsfähigkeit

Der Arzt ist aufklärungspflichtig. Die Aufklärung wird der urteilsfähigen Patientin geschuldet. Eine urteilsunfähige Patientin kann nicht rechtsgenügend aufgeklärt werden, weshalb sie auch nicht gültig einwilligen kann. Ein Eingriff unter diesen Voraussetzungen wäre rechtswidrig und kann zu Strafbarkeit, haftpflichtrechtlichen Forderungen oder einem standes- oder aufsichtsrechtlichen Verfahren führen.
Im Gegensatz zum Vorliegen der Urteilsfähigkeit wird nicht vermutet, der Patient sei aufgeklärt. Die Ärztin schuldet die entsprechende Aufklärung vor jedem Eingriff und jeder Behandlung. Das gilt ebenso für das Einholen der Einwilligung und die Dokumentation der Aufklärung. Hingegen ist das Thema Urteilsfähigkeit nur dann aufzugreifen, wenn ein Anlass dazu besteht. Es ist folglich zu unterscheiden zwischen den Themen Urteilsfähigkeit und Aufklärungspflicht.

Was tun, wenn die Patientin 
nicht ­urteilsfähig ist?

Die Patientin ist in diesen Fällen nicht Adressatin der Aufklärung. Der Gesetzgeber sieht bei urteilsunfähigen Volljährigen (>18 Jahre [10]) eine Stufenfolge von vertretungsberechtigten Personen vor. Sie beginnt mit Personen, welche in einer Patientenverfügung oder ­einem Vorsorgeauftrag dazu bestimmt wurden, fährt weiter mit einem Beistand für medizinische Massnahmen, dem im gemeinsamen Haushalt lebenden oder der Patientin regelmässig und persönlich Beistand leistenden Ehegatten oder eingetragenen Partner und endet bei den regel­mässig und persönlich Beistand leistenden Geschwistern. Gibt es mehrere vertretungsberechtigte Personen, entstehen Konflikte, oder können die Patientenrechte anderweitig nicht gewahrt werden, kann die Erwachsenenschutzbehörde beigezogen werden [11]. Grundsätzlich darf eine gutgläubige Ärztin aber davon ausgehen, dass bei mehreren vertretungsberechtigten Personen jede im Einverständnis mit den anderen handelt [12].
Urteilsunfähige minderjährige Patienten werden von ihren Eltern, einem Beistand für medizinische Massnahmen oder einem Vormund vertreten, wobei auch hier davon ausgegangen werden darf, der eine Elternteil handle im Einverständnis des anderen, sofern nichts dagegen spricht [13].
Die vertretungsberechtigte Person ist – soweit sie selbst urteilsfähig ist – Adressatin des Aufklärungsgesprächs, und sie willigt in die Behandlung ein. Als Grundlage dient der von der Ärztin aufzustellende Behandlungsplan [14]. Dabei darf die vertretungsberechtigte Person nur so handeln, dass dem mutmasslichen oder in einem früheren Zustand der Urteilsfähigkeit ausdrücklich geäusser­ten Willen der Patientin entsprochen wird. Der Wille des Vertreters ist unerheblich, wenn er dem Pa­tientenwillen nicht entspricht.
Kann der Patientenwille nicht eruiert werden, muss die vertretungsberechtigte Person im objektiven Inter­esse der Patientin handeln [15]. Dasselbe gilt für den Arzt, sofern er im Notfall ohne Kenntnis des mutmasslichen Patientenwillens und in Abwesenheit der vertretungsberechtigten Person über die weitere Behandlung entscheiden muss [16].
Der urteilsunfähige Patient ist soweit möglich in die Entscheidfindung einzubeziehen [17]. Das gilt sowohl für erwachsene Personen als auch für Minderjährige.
Wird fälschlicherweise ein Vertreter aufgeklärt, obwohl die vertretene Person urteilsfähig ist, kann sich die Ärztin dem Vorwurf der Verletzung des Berufsgeheimnisses und der Datenschutzgesetzgebung aussetzen [18]. Auch bei der Behandlung von Minderjährigen sind deshalb nicht automatisch die Eltern oder der Vormund in ein Aufklärungsgespräch bzw. die Behandlung einzubeziehen. Die Einwilligung von urteilsfähigen Minderjährigen ist vorher immer einzuholen. Sind die Eltern oder der Vormund in die Behandlung einbezogen worden und ist die urteilsfähige Minderjährige damit einverstanden, gilt dennoch sie selbst als Adressatin der Aufklärung, und auch nur sie darf über Durchführung der Behandlung oder den Verzicht darauf entscheiden.

Cui bono?

Das Respektieren der Regeln im Umgang mit Urteils­fähigkeit, Aufklärung und Einholen der Einwilligung des Patienten stellt sicher, dass sein Recht auf Selbst­bestimmung gewahrt wird. Weiter kann sich die Ärztin in einem gerichtlichen Verfahren entlasten, sollten diesbezügliche ungerechtfertigte Anschuldigungen vorgebracht werden.
Sekretariat
Rechtsdienst FMH
Tel. 031 359 11 11 
Fax 031 359 11 12 
lex[at]fmh.ch
 1 BGE 124 III 5, E. 1a.
 2 BGE 132 III 455, E. 4.2.; Sandra Hotz, in: Andrea Büchler / Dominique Jakob (Hrsg.), Kurzkommentar ZGB, 2. Auflage, Basel 2018, N1 zu Art. 16 ZGB.
 3 Art. 16 Zivilgesetzbuch.
 4 Hotz, N 2 zu Art. 16 ZGB.
 5 BGE 127 I 6, E. 7b/aa); Urteil des Bundes­gerichts (2C_410/2014) vom 22.1.2015, E. 6.3.
 7 BGE 134 II 235, E. 4.1.
 8 Art. 5 Sterilisations­gesetz; Art. 12 Transplantationsgesetz.
 9 Urteil des Bundes­gerichts (2C_410/2014) vom 22.1.2015, E. 6.5.; BGE 133 I 58, E. 6.3.5.2.
10 Art. 14 Zivilgesetzbuch.
11 Art. 381 Zivilgesetzbuch.
12 Art. 378 Zivilgesetzbuch.
13 Art. 304f., 308, 311, 327aff. Zivilgesetzbuch.
14 Art. 377 Zivilgesetzbuch.
15 Art. 378 Abs. 2 Zivil­gesetzbuch.
16 Art. 379 Zivilgesetzbuch.
17 Art. 377 Abs. 3 Zivil­gesetzbuch.
18 Art. 321 Strafgesetzbuch; Art. 12f. Datenschutz­gesetz.