Sind Sie wichtig?

Zu guter Letzt
Ausgabe
2019/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.18139
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(38):1286

Affiliations
Institut für Bioethik (iEH2), Medizinische Fakultät, Genf

Publiziert am 18.09.2019

«Wie ist das also: Sollen wir jetzt bei den Gesunden hausieren gehen, um noch mehr behandeln zu können?» Die Situation ist imaginär, aber durchaus plausibel. Die Frage wäre absichtlich provozierend. Ganz sicher bliebe sie nicht ohne Reaktion. Wir stellen uns die angespannte Situation vor – und zu Recht!
Das Wohl des Patienten ist ein hehres Gut in der Medizin. Mehr noch – es ist einer ihrer Eckpfeiler. Seit Hippokrates wird das Primat des Patientenwohls beschworen. Ein hochgestecktes Ziel – aber nicht nur … Seit ihren Anfängen verfügt die Medizin über wirkmächtige Hilfsmittel. Die ersten Kranken und die ersten Ärzte wurden sich wohl sehr schnell der Tatsache bewusst, dass diese Hilfsmittel für alle möglichen Zwecke eingesetzt werden konnten – Zwecke, die nicht zwingend alle im Interesse des Kranken ­lagen. Wie kann also angesichts einer Erkrankung sichergestellt werden, dass die eigenen Erben den Arzt nicht eher dafür bezahlen, den Patienten schneller unter die Erde zu bringen? Ohne das Vertrauen in die Überzeugung, dass das Patientenwohl an erster Stelle kommt, ist es schwierig, sich der Medizin anzuvertrauen. Und wenn dieses Patientenwohl ein hehres Gut in der Medizin ist, so gilt seine Beachtung als unser vorrangiges Ziel – wird ihm keine Beachtung geschenkt, lassen sich alle anderen Ziele ebenfalls nicht umsetzen. Ein Ideal mit einem grossen Schuss Pragmatismus!
Wir sollten uns gelegentlich daran erinnern, denn das Wohl des Patienten ist nicht die einzige Zielvorgabe in der Medizin. Thompson spricht von primären und sekundären Interessen, um diese vielfältigen Vorgaben zu benennen, die in allen Professionen vorhanden sind [1]. In der Medizin zählt das Patientenwohl zu den primären Zielsetzungen, zu jenen, die diesem Fachbereich inhärent sind und ohne die der Beruf gewechselt wird. Alle sekundären Interessen sind … sekundär! Das macht sie jedoch nicht weniger real. Einkünfte generieren, die Einrichtungen auch unter verstärkten Wettbewerbsbedingungen am Leben erhalten, Nachfolgegenerationen für das Berufsbild heranziehen – ­alles sekundäre Interessen, die alle wichtig sind. Aber Achtung: Hier die richtigen Prioritäten erkennen! Einnahmen generieren ist gut, allerdings nicht zu Lasten der Kranken. Wenn wir künftig Leistungen verkaufen, ohne uns um das Wohl der Patienten zu kümmern, verwenden wir zwar das Instrumentarium der Medizin, handeln aber nicht mehr als Ärzte. Und damit riskieren wir dann das ­Verschwinden unseres primären Instruments, jene Vertrauensbasis, ohne die sich uns kein Patient anvertrauen kann.
Theoretisch ist dies einfach! In der Praxis jedoch eine heikle Sache. Wie sollen wir handeln, wenn der Wett­bewerbsdruck zunimmt, wenn sich die Ertragslage in den Spitälern und Arztpraxen weiter zuspitzt? Und was geschieht in jenen Fällen, in denen sich Mehreinnahmen leicht erwirtschaften lassen, die Indikation noch vertretbar wäre, wo niemand Anstoss nimmt? Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Es sind Situationen, die sich leicht auch ganz ohne böswillige Absicht ereignen können. Mehreinnahmen in einem Gesundheitsbetrieb sind an sich ja absolut nicht verwerflich. Eine Erhöhung des Leistungsvolumens führt häufig zu mehr Qualität bei der Behandlung. Dagegen ist absolut nichts zu sagen. Allerdings geraten wir ohne entsprechende Schutzvorkehrungen geradewegs in eine Falle, die uns seit je droht. Wie sollen wir erkennen, wann wir tatsächlich hineinzufallen drohen? Häufig haben die Agierenden vor Ort diesbezüglich eine gute Idee. Gelegentlich auch die Patienten. Wenn wir Ersteren ­anonym die Frage stellten: «Steht das Patientenwohl an erster Stelle, da wo Sie arbeiten?» und die zweite Gruppe fragen würden: «Wurde Ihnen das Gefühl vermittelt, dass Sie wichtig sind?», so wären wir mög­licherweise ziemlich überrascht über die Antworten. Vielleicht. Aber vielleicht wäre eine solche Über­raschung gar nicht so ungesund.
samia.hurst[at]saez.ch
1 Thompson DF. Understanding financial conflicts of interest. N Engl J Med. 1993 Aug 19;329(8):573–6. PubMed PMID: 8336759.