Odyssee

FMH
Ausgabe
2019/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.18226
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(38):1248

Affiliations
Dr. med., Mitglied des FMH-Zentralvorstandes, Departementsverantwortlicher Public Health und Gesundheitsberufe

Publiziert am 18.09.2019

Das Gesundheitswesen ist ein komplexes System: eine Odyssee von Problemen, aber auch von Chancen. Wie navigieren wir zwischen Skylla und Charybdis? Bisher offensichtlich nicht so schlecht, wurde doch das Schweizer Gesundheitswesen 2019 aus Sicht der Patien­tinnen und Patienten, gemäss dem Euro Health Consumer Index, auf den Spitzenplatz gesetzt. Wie reagie­ren wir auf den Sirenengesang der ausländischen Tabakindustrie? Die Gesundheitskommission des Ständerats hat Schritte in die richtige Richtung unternommen. Evidenz aus dem Public-Health-Bereich bietet weitere Chancen, direkte Gesundheitskosten in Milliardenhöhe und somit Krankenkassenprämien zu reduzieren, ohne Rationierung von Leistungen. Die Krankenkassen handeln im Übrigen rational, wenn sie nun von den Überschüssen in Milliardenhöhe, die sich infolge über Jahre zu hoher durch das BAG festgesetzter Prämien angesammelt haben, Geldbeiträge an die Versicherten zurückgeben. Der reale, indexierte Kostenanstieg im Gesundheitswesen liegt nämlich seit 1996 50% tiefer. In der aktuellen durch Verunsicherung geprägten Zeit lassen sich dank der Rückzahlungen der Krankenkassen an die Prämienzahler Verluste bei den Prämiengeldern in der Höhe von mehreren 100 Millionen CHF infolge Negativzinsen und Anlageverlusten vermeiden.
Komplexe Systeme lassen sich nicht top-down steuern. Bottom-up-Ansätze haben sich als hilfreicher, effizienter und nachhaltiger erwiesen. Damit ein Bottom-up-Ansatz gelingt, ist eine adäquate Partizipation aller Berufsgruppen, welche die relevante Arbeit Tag für Tag an der Front leisten, entscheidend. Diese Partizipation zeichnet sich auch durch eine entsprechende Kommunikation und Wertschätzung aus. Fehlen diese, resultieren kürzere Verweildauer im Beruf und Fachkräftemangel. Dieser wird die nächsten 10 bis 15 Jahre die Ausgestaltung des Schweizer Gesundheitswesens mitprägen. Relevant sind zudem die intrinsische Motivation und die Wertevorstellungen der Berufsgruppen. Durch eine administrative Überbelastung, basierend auf einem Klima des Misstrauens, schwinden Qualität, Effizienz und auch Motivation. Das Gesundheitswesen müsste, sofern es seine Menschlichkeit bewahren möchte, dekontaminiert werden von betriebswirtschaftlichen Ideen und Konzepten, die einer Industrielogik folgen. Die Betriebswirtschaft gehört auf die Administrationsebene, nicht in die Strategieebene. Andernfalls werden Ineffizienz und Sinnentleerung weiter zunehmen. Dies gilt nicht nur für das Gesundheitswesen, sondern auch für das Bildungswesen. Fehlender adäquater Einbezug schafft, neben Qualitätsmängeln, auch Widerstände. Diese Widerstände lassen einen die alltägliche Arbeit als Sisyphusarbeit empfinden. Im ärztlichen Alltag hat sich «Motivational Interviewing» als wertschätzende, die Autonomie der Patientinnen und Patienten respektierende, empathische Kommunikationsform bewährt. Es gelingt so auch, Verantwortung mit den Patientinnen und Patienten zu teilen und weniger Last auf den eigenen Schultern zu tragen. So wirkt es protektiv gegen Burnout. Gemäss PROFILES werden sich die Fakultäten in dieser Hinsicht vermehrt engagieren. Die FMH wird in diesem Bereich im Rahmen der nationalen Strategie zur Prävention nichtübertragbarer Krankheiten ebenfalls ihren Beitrag leisten.
Nebenbei: Gemäss der griechischen Mythologie war Sisy­phos der Vater des Odysseus und eine schillernde, schlaue, vorausschauende Persönlichkeit. Ob er den Stein wirklich ständig den Berg hinaufrollte und Thanatos effektiv mehrfach ein Schnippchen schlug? Zumindest das Letztere ist schwierig, wie wir als Mediziner wissen. Bescheidenheit ist angezeigt. Wir können allenfalls Wahrscheinlichkeiten verschieben, wobei unser Gesundheitsverhalten und somit die Verhältnisse, in denen wir leben, in der Regel Match-entscheidend sind. Packen wir die Chancen!