Kein Vorentscheid zugunsten schädlicher Gesundheitsreformen

FMH
Ausgabe
2019/42
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.18261
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(42):1382-1384

Affiliations
Verantwortlicher Public Affairs der FMH

Publiziert am 15.10.2019

Ausgerechnet die gesundheitspolitisch von Katastrophenrhetorik geprägte Legislaturperiode 2015–2019 geht mit einer atypischen Nachricht zu Ende. Die OKP-Gesundheitsleistungen sind 2018 erstmals seit Einführung des KVG gesunken. Positiv zu vermerken ist auch, dass die Rhetorik die Gesetzessubstanz in den vergangenen vier Jahren nicht anzugreifen vermochte.
«Die Kosten für unser Gesundheitswesen steigen ungebremst. Für immer mehr Menschen werden die Prämien zu einer untragbaren Last. Die Solidarität zwischen Jung und Alt sowie zwischen Gesunden und Kranken wird ausgehöhlt.» Diese Aussagen klingen vertraut. Sie sind aber aus einer anderen Zeit. Es war im Hinblick auf die Volksabstimmung über das neue ­Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) am 4. Dezember 1994, als der Bundesrat mit diesen Aus­sagen seine Abstimmungserläuterungen einleitete. Dreiundzwanzig Jahre nach Inkraftsetzung des KVG zu Beginn des Jahres 1996 befinden wir uns wieder in ­einer bereits seit längerem andauernden Phase der ­nahezu täglichen Beschwörung von explodierenden Gesundheitskosten in den Medien.
Während damals für das neue KVG geworben wurde, werden heute die gleichen Worte und Argumente für ein Globalbudget und damit gegen das Versicherungsprinzip verwendet.
Die diesmal durch den nationalen Wahlkampf noch verstärkte problemorientierte gesundheitspolitische Berichterstattung scheint eine gewisse Wirkung im ­Bereich der Wahrnehmung zu zeigen. Die Bevölkerung setzt die Gesundheitskosten in der Hitparade der Sorgen auf einen Spitzenplatz. Gute Nachrichten, wie zum Beispiel etwa das Faktum, dass die Statistik seit zehn Jahren ein gebremstes Wachstum der OKP-Leistungen gegenüber früher ausweist [1], finden dagegen in der medialen Öffentlichkeit wenig Beachtung.
Die Politik der Kostendämpfung des Departements des Innern (EDI) hat aber derweil in der zu Ende gehenden Legislaturperiode im Parlament trotzdem noch nicht richtig Fuss fassen können. Dies insofern, als das Par­lament dem Bundesrat grundsätzlich die Führung im Dossier Kostendämpfung überlassen hat. In den Einzelfällen, wo es zu Abstimmungen kam, blieben Vorentscheide zugunsten der Versorgungsqualität abträglicher Reformen aus. Dieser Befund ist weder Grund zur Genugtuung noch Anlass zu Alarmismus. Aber wenn in Bern allenthalben die Grundstimmung aufkommt, es müsse jetzt endlich unbedingt irgend­etwas getan werden, dann darf durchaus Befriedigung über die Komplexität und Langsamkeit politischer Verfahren aufkommen. Sie sorgen dafür, dass Rhetorik nicht allzu rasch Gesetz wird. In der Tat bleiben von der Kostendämpfungspolitik bei nüchterner Betrachtung vorerst Ankündigungen des EDI im Jahrestakt übrig. Auf die Zielvorgabe von 20 Prozent Kostensenkung ohne Qualitätseinbusse [2], angekündigt 2013 im Bericht Gesundheit 2020 des EDI, folgten 2016 die Einsetzung einer Expertengruppe, geführt von der ehemaligen Regierungsrätin Verena Diener, 2017 die Publikation ihres Berichts [3], 2018 die Vernehmlassung zum ersten Kostendämpfungspaket und in der zweiten Hälfte 2019 die Überweisung der Botschaft ans Parlament. Der Gesetzgeber hingegen verzichtete in den letzten vier Jahren verdienstvollerweise weitgehend auf eigene Aktivitäten im Bereich Kostendämpfung.

EFAS statt Globalbudget

Mehr noch, die Gesundheitskommission des Nationalrats setzt auf eine Finanzierungsreform. Sie reanimierte erfolgreich das Projekt einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (EFAS), wofür sie Anerkennung und Zustimmung verdient hat. Den Status als eigentliches Gegenprojekt zur eindimensionalen Kostensenkungspolitik des Departements hat EFAS zwar in der politisch-medialen Diskussion noch nicht errungen. Das liegt auch daran, dass selbst die Promotoren des vielversprechenden und notwendigen Projekts zur Reform der Finanzierung von stationärer und ambulanter Versorgung unklare Signale über ihre gesundheitspolitischen Prioritäten verbreiten. Die Hoffnung ruht nun auf dem personell erneuerten Parlament und seinen Gesundheitskommissionen, dass die Weichen in der neuen ­Legislaturperiode zugunsten von der Finanzierungsreform EFAS gestellt werden. Und dass dagegen Projekte, welche in der Schweiz Globalbudgetverhältnisse schaffen wollen, die Errungenschaften der Gesundheits­versorgung in Frage stellen und die Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten mit der Gesundheitsversorgung ignorieren, auf das Abstellgleis geschoben werden.

Neues Qualitätsgesetz

Das Parlament hat in der Legislaturperiode 2015–2019 wichtige Gesetzesarbeit im Bereich der Gesundheitspolitik vollbracht, mit deren Ergebnissen sich leben lässt.
So ist 2016 die umfangreiche Reform des Heilmittelgesetzes erfolgreich abgeschlossen worden. Die FMH beurteilte die Revision gemessen an ihren Ansprüchen als weitgehend gelungen. Fragezeichen setzte die FMH allerdings hinsichtlich der Regulierung der geldwerten Vorteile namentlich wegen der praktischen Umsetzbarkeit sowie bezüglich der Abgabe von Arzneimitteln der Kategorie B durch Apothekerinnen und Apotheker.
Sodann verabschiedeten die eidgenössischen Räte auch ein neues Qualitätsgesetz. Die FMH begrüsste grundsätzlich die gesetzliche Verankerung der Qualität im Krankenversicherungsgesetz. Und sie erachtete es als wichtig, bei der Qualität der medizinischen Patientenversorgung klare vertragliche Verbindlichkeiten zu erreichen. Die FMH signalisierte dem BAG, dass sie sich in der neu zu schaffenden Qualitätskommission einbringen und sich so aktiv für praktikable Lösungen zur Qualitäts­sicherung engagieren will. Die FMH ist überzeugt, dass mittels Vernetzung und Koordination der verschiedenen Organisationen die zielführendsten ­Lösungen gefunden werden können.

Verbesserung der Zulassungssteuerung in der parlamentarischen Debatte

Seit 2001 gelten gesetzliche Bestimmungen, welche die Zulassung der Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz provisorisch regeln und deren rechtliche Geltung immer wieder verlängert worden ist. Ein definitives Zulassungsregime soll 2021 in Kraft gesetzt werden. Die Zulassungsvoraussetzungen für Leistungserbringer sind gegenüber dem geltenden Recht in zweifacher Hinsicht verschärft worden. Die Ärzteschaft hatte zwei Qualitätskriterien in die Diskussion eingebracht. Derzeit gilt das Dreijahreskriterium: Wer drei Jahre an ­einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet hat, erhält die Zulassung. Neu soll ­zusätzlich zu den drei Jahren die Tätigkeit in der ­beantragten Fachdisziplin erfolgen. Die limitierte Verfügbarkeit von Weiterbildungsstätten für die fach­spezifische Tätigkeit wird die Zulassungen für die ­Spezialdisziplinen begrenzen. Das zweite neu ins KVG aufgenommene Qualitätskriterium betrifft das Spracherfordernis. Ärztinnen und Ärzte müssen die in ihrer Tätigkeitsregion erforderliche Sprachkompetenz in ­einer in der Schweiz abgelegten Sprachprüfung nachweisen. Die Nachweispflicht muss vor Antritt der ärztlichen Berufstätigkeit erbracht werden. Sie entfällt aber für Ärztinnen und Ärzte, die über eine Schweizer Maturität (gemäss Ständerat) bzw. über eine schweizerische gymnasiale Maturität (gemäss Nationalrat) verfügen oder ein anerkanntes ausländisches Diplom in der Amtssprache der Tätigkeitsregion erworben haben. Mit den verschärften Sprachanforderungen kann im Berufsalltag sichergestellt werden, dass sich der Arzt im Team mit Gesundheitsfachpersonen und Arbeitskollegen und mit Patientinnen und Patienten differenziert und fliessend verständigen kann. Auch nachdem eine Bestimmung über die Lockerung des Vertragszwangs in der Bereinigung der Vorlage zwischen National- und Ständerat verworfen wurde, waren die Differenzen nach der Herbstsession immer noch erheblich. So konnten sich die beiden Räte nicht über die Regelung der Höchstzahlen einigen. Die grosse Kammer ­insistiert auf einer Verpflichtung, die kleine Kammer will es den Kantonen überlassen, Höchstzahlen für Leistungserbringer einzuführen. Auch die Frage der Verknüpfung des Zulassungsdossiers mit der Vorlage der einheitlichen Finanzierung (EFAS) entzweit die beiden Räte. Über die Zulassung wird erst das neue Parlament definitiv befinden.
Das EDI hat sich in den vergangenen Jahren bemüht, in seiner Kommunikation über die Kostendämpfungs­politik alle Akteure des Gesundheitswesens anzusprechen und sie alle bezüglich zu leistender Beiträge an die Kostendämpfung in die Pflicht zu nehmen.

Bundesamt für Statistik behält Oberhand

Dieser departementale Gleichbehandlungs-Approach galt dort nicht, wo das EDI nicht auf das Parlament angewiesen ist. Volle und einseitige Aufmerksamkeit wurde der Ärzteschaft nach der Ablehnung der Tarifrevision im Mai 2016 zuteil. Vertraute des Departementsvorstehers Bundesrat Alain Berset wurden im September desselben Jahres in Le Matin Dimanche und im Blick mit markigen Worten über Ärztehonorare zitiert. Pierre-­Yves Maillard, der damalige waadtländische ­Gesundheitsdirektor, bedauerte zusammen mit dem vormaligen Nationalrat Jean-François Steiert ein angebliches Defizit an Daten und Studien über Ärzte­einkommen. Die Aussage, dass 500 000 Franken aus der Grundversicherung unanständig seien, begann die Runde zu machen [4]. Die Skandalisierung der Ärzteschaft durch selektive Betrachtung von statistischen Ausreissern gipfelte in der Publikation einer eigenen Statistik des Bundesamts für Gesundheit (BAG) und ebbte erst ab, nachdem sich die ­Gesundheitskommission des Ständerats für eine faktenbasierte Diskussion ausgesprochen hatte und sich die Daten des Bundesamts für Statistik (BSF) gegenüber jenen des BAG de facto durchsetzten. Die Gesundheitskommission des Ständerats teilte nach ihrer Sitzung im Januar 2019 mit, dass der Bund keine neue Erhebung zu den Einkommen der Ärzteschaft plant, sondern auf eine jährliche Vollerhebung des BFS bei den Arztpraxen und ambulanten Zentren (MAS) setzt. Diese lakonische Mitteilung hat (ein bisschen) Genugtuung verschafft.

Tarifeingriff und Tarifeinreichung

Nachdem bereits im Jahr 2014 erstmals ein bundesrätlicher Eingriff in die TARMED-Struktur erfolgte, nutzte der Bundesrat seine subsidiäre Kompetenz für einen zweiten, umfangreicheren Eingriff, der ab Anfang 2018 Wirksamkeit entfaltete. Dieser Tarifeingriff hat das bewirkt, worauf die Ärzteschaft hingewiesen hatte. Von den engen Abrechnungslimitationen sind in erster Lini­e besonders benachteiligte Patientengruppen betroffen. Wobei hinzukommt, dass die Bewilligung zur Überschreitung der Limitationen zugunsten von Patienten auch in Einzelfällen nur sehr schwer zu erhalten ist. Für die Ärztinnen und Ärzte wiederum hat die adminis­trative Belastung noch einmal erheblich zu­genommen.
Einen Meilenstein erreichte die FMH auf dem Weg zum neuen Einzelleistungstarif. Gemeinsam konnten die Tarifpartner curafutura, MTK und die FMH am 12. Juli 2019 der Bundeskanzlei die vollständig neue Tarifstruktur TARDOC übergeben. Die Tarifpartner cura­futura seitens der Versicherer und die FMH seitens der Leistungserbringer haben sich zusammen mit der ­Medizinaltarifkommission MTK (Unfallversicherer, ­Invalidenversicherung und Militärversicherung) nach umfangreichen Verhandlungen auf einen gesetzeskonformen, sachgerechten und betriebswirtschaftlich bemessenen Einzelleistungstarif geeinigt. Gemeinsam haben sich die Partner auch zur kostenneutralen ­Überführung von TARMED zu TARDOC gemäss Art. 59c Abs. 1 lit. c KVV bekannt. Aufseiten der Ärzteschaft wurde diese Tarifstruktur von der FMH mit einer Mehrheit der Leistungserbringer eingereicht. Aufseiten der ­Kostenträger ist dagegen nicht die Mehrheit der Versicherten abgebildet, da zwar der Versicherungsverband curafutura, nicht aber die Santésuisse an den Verhandlungen teilgenommen hatte. Bevor eine angepasste Tarifstruktur für alle Tarifpartner verbindlich festgelegt und in Kraft gesetzt werden kann, wird den Tarifpartnern, welche bei der Tarifrevision nicht dabei waren, das rechtliche Gehör zu gewähren sein. Die ­Inkraftsetzung ist frühestens per 1. Januar 2021 zu erwarten.
bruno.henggi[at]fmh.ch
2 EDI. Die gesundheitspolitischen Prioritäten des Bundesrates ­(Gesundheit 2020). Seite 20, 23. Januar 2013.
3 EDI. Kostendämpfungsmassnahmen zur Entlastung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung. Bericht der Expertengruppe. 24. August 2017.
4 Blick. Politiker wollen Ärzte-Einkommen deckeln. 12. September 2016.